London. Die Niederlage, aber vor allem Rassismus und Krawalle der Fans haben das EM-Finale für England zu einem Albtraum werden lassen.

Wenn irgendwann die klaren Gedanken zurück kommen, dann wird die Welt wieder besser aussehen, da ist sich Englands Trainer Gareth Southgate sicher. Am Vormittag nach der Niederlage im EM-Finale gegen Italien im Wembley-Stadion allerdings fühlte er sich, als hätte ihm jemand “den Magen herausgerissen”, wie er es formulierte. England hatte geträumt, vom ersten Titel seit dem WM-Erfolg 1966. Nein – mehr noch: England hatte daran geglaubt, dass die 55 schmerzvollen Jahre ohne Trophäe enden würden gegen Italien.

Die Mannschaft hatte sich im Verlauf der EM immer weiter gesteigert, von der lauwarmen Vorrunde (nur zwei Tore in drei Spielen) über das emotionale 2:0 im Achtelfinale gegen den alten Angstgegner Deutschland und das souveräne 4:0 im Viertelfinale gegen die Ukraine bis zum umstritten zustande gekommenen aber verdienten 2:1 nach Verlängerung im Halbfinale gegen Dänemark. Im Endspiel gelang England ein Traumstart mit dem frühen 1:0 durch Luke Shaw, doch wie schon öfter in der Vergangenheit verlor die Mannschaft mit laufender Spieldauer die Kontrolle, kassierte den Ausgleich durch Leonardo Bonucci und verlor im Elfmeterschießen 2:3.

Southgate hat sich vor dem Elfmeterschießen verzockt

Eigentlich hatte England gedacht, den Fluch vom Punkt endlich abgelegt zu haben mit dem Erfolg im Elfmeterschießen über Kolumbien bei der WM 2018 und, weniger prominent, in der Endrunde der Nations League gegen die Schweiz. Doch das alte Trauma kam zurück, weil sich Southgate verzockte. Ausgerechnet Southgate. Im Halbfinale der Heim-EM 1996 gegen Deutschland verschoss er den entscheidenden Elfmeter und trug danach über Jahre den Status als Sündenbock. Wie sehr ihn das geprägt hat – darüber hatte er im Vorlauf auf das Achtelfinale gegen Deutschland ausführlich gesprochen. Im Endspiel gegen Italien schlug dann sein Elfmeter-Manöver fehl. Southgate wechselte zum Ende der Verlängerung Marcus Rashford und Jadon Sancho ein, beide scheiterten vom Punkt, Rashford am Pfosten, Sancho an Gianluigi Donnarumma. Außerdem parierte Italiens Torwart den Versuch von Bukayo Saka und ruinierte damit Englands Hoffnungen auf den ersten EM-Titel.

Bukayo Saka (mitte) verzweifelt nach seinem vergebenen Elfmeter, die Italiener im Hintergrund jubeln.
Bukayo Saka (mitte) verzweifelt nach seinem vergebenen Elfmeter, die Italiener im Hintergrund jubeln. © AFP

Southgate erhob hinterher umfassend Selbstanklage. Die Niederlage im Elfmeterschießen sei seine Schuld, sagte er: “Ich wähle die Schützen aus. Es ist meine Verantwortung. Es liegt nicht an den Spielern.” Seine jungen Profis hatten den Schutz des Trainers dringend nötig. Nach ihren Fehlschüssen wurden Rashford, Sancho und Saka in den Sozialen Medien so massiv rassistisch beleidigt, dass Englands Verband noch in der Nacht ein Statement herausgab, in dem er den Hass verurteilte. Die Abläufe folgten einer deprimierenden Dynamik, die man im englischen Fußball regelmäßig erlebt. Wenn ein schwarzer Spieler einen Fehler macht, kann man sicher sein, dass er sich bei Twitter, Facebook und Instagram rassistischen Attacken ausgesetzt sieht, worauf hin es die immer gleichen Statements (“sind schockiert”, “kein Platz für Diskriminierung”) und eine Welle der öffentlichen Empörung gibt. Dann geht es weiter wie gehabt.

England: Rassismus-Problem wird offensichtlich

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Englands Nationalmannschaft setzt sich offensiv gegen verschiedene Formen der Diskriminierung ein. Bei der EM zeigte sie das zum Beispiel dadurch, dass sie bei jedem Spiel vor Anpfiff auf die Knie ging, als Zeichen gegen Rassismus. Die Buh-Rufe gegen diese Geste wurden im Verlauf des Turniers immer lauter übertönt vom Applaus des restlichen Publikums. Nach dem Finale wurde den Engländern das Rassismus-Problem im Fußball, in England, in den Sozialen Medien wieder in vollem Ausmaß vor Augen geführt. Auch die übrigen Begleitumstände trugen dazu bei, dass das EM-Endspiel eine deprimierende Angelegenheit war aus englischer Sicht.

Englands Fans fallen immer wieder negativ auf – bei der EM unter anderem dadurch, dass sie die Nationalhymnen von Schottland, Deutschland und Dänemark auspfiffen. Im Finale herrschte Chaos in Wembley. Schon Stunden vor dem Spiel waren Tausende Menschen zum Stadion gekommen, viele von ihnen stark alkoholisiert. Vor dem Anpfiff überrannten Fans ohne Karten in mehreren Schüben die Sicherheitskräfte und verschaffen sich Zugang zum Stadion. In den Sozialen Medien kursierten Videos, auf denen blanke Gewalt gegen Ordner und andere Zuschauer zu sehen war. Die “Metropolitan Police” sprach hinterher von 49 Festnahmen. Mit ihrem Betragen leisteten die Fans ihren Teil dazu, dass sich Nationaltrainer Southgate fühlte, als hätte ihm jemand den Magen herausgerissen.