London. Trotz Gruppensieg konnte England bei der EM noch nicht überzeugen. Nun wartet im Achtelfinale ausgerechnet Deutschland in Wembley.
Es sind die unvermeidlichen Wortspiele, mit denen die englische Presse auf die Tatsache reagiert hat, dass es im EM-Achtelfinale gegen Deutschland geht, am Dienstag im Wembley-Stadion in London. “HERR we go!”, war gleich in mehreren Zeitungen zu lesen und bewies wieder einmal, dass englische Schlagzeilen-Architekten eine seltsame Faszination für die deutsche Sprache empfinden. Die wenigen Wörter auf Deutsch, die sie kennen, bringen sie bei jeder Gelegenheit an. Ein weiteres Beispiel: “For better or for WURST”, übersetzt ungefähr “wohl oder übel”, überschrieb das Krawall-Blatt “The Sun” eine Übersicht der Begegnungen zwischen den alten Rivalen in der K.O.-Phase von großen Turnieren. Die Bilanz aus englischer Sicht ist trist.
Bei den fünf Aufeinandertreffen gab es nur einen Sieg – im WM-Endspiel 1966. Die weiteren vier Duelle gingen verloren, jeweils unter traumatischen Umständen. Im WM-Viertelfinale 1970 verspielte England einen 0:2-Vorsprung und verlor 2:3, auch deshalb, weil Weltmeister-Torwart Gordon Banks wegen einer Lebensmittelvergiftung fehlte und sein Ersatz Peter Bonetti enttäuschte. In den Halbfinals der WM 1990 und der EM 1996 scheiterte England jeweils im Elfmeterschießen. 1996 vergab bekanntlich der aktuelle Nationaltrainer Gareth Southgate den entscheidenden Versuch. Bei der bisher letzten Begegnung bei einem Turnier, im Achtelfinale der WM 2010, verlor England 1:4 und beklagt bis heute das Schicksal. Ein Schuss von Frank Lampard war beim Stand von 1:2 an die Unterkante der Latte geprallt und hatte die Linie klar überquert, doch der Treffer zählte nicht. Gerechtigkeit für das Wembley-Tor von 1966?
“…am Ende gewinnen immer die Deutschen”
Englands Respekt vor Deutschland ist riesig, ungeachtet der Probleme der DFB-Elf in den vergangenen Jahren. Die Engländer fürchten die Sieger-Mentalität der Deutschen, ihre Begabung, in großen Momenten zu großer Leistung aufzulaufen, während die eigene Mannschaft bei Turnieren verlässlich zusammenbricht unter dem öffentlichen Druck und der Last der Geschichte. Der alte Spruch von Gary Lineker (“…am Ende gewinnen immer die Deutschen”) fasst den englischen Blick nach wie vor gut zusammen. Was natürlich nicht bedeutet, dass England ohne Hoffnung in das Treffen am Dienstag gehen. Im Gegenteil. Die Mannschaft von Trainer Southgate hat ihre Vorrundengruppe gewonnen, und das recht souverän, mit sieben Punkten – und vor allem: ohne Gegentor. Das gelang bisher erst einmal bei einem Turnier, nämlich 1966. So richtig schlau wird man trotzdem nicht aus den Engländern. Trotz ihrer luxuriös besetzten Offensive mussten die Fans bisher vergeblich auf spektakulären Fußball warten. In der Vorrunde traf England nur zwei Mal, jeweils durch Raheem Sterling.
Auch interessant
Trainer Southgate, mittlerweile 50, ist ein vorsichtiger, pragmatischer Vertreter seiner Zunft. Als Blaupause seiner Arbeit betrachtet er das Frankreich von Didier Deschamps oder das Portugal von Fernando Santos. Trotz überragender individueller Klasse spielen diese Teams sachlichen, ergebnisorientierten aber erfolgreichen Fußball. Southgate strebt Ähnliches an. Deshalb ist er zufrieden mit der bisherigen Darbietung seiner Mannschaft. “Es ist im Moment schwer, gegen uns zu treffen. Die Solidität ist für jedes Team wichtig, das Erfolg haben will”, sagte der Trainer nach dem 1:0 gegen Tschechien zum Abschluss der Vorrunde. Die Presse schwankt noch: “Ist das Glas halb leer oder halb voll? Das werden wir wohl erst wissen, wenn auf den Sieg angestoßen oder mal wieder nach einem frühen Aus die Trauer ertränkt wird”, schrieb der “Telegraph”. Das Achtelfinale gegen Deutschland wird zeigen, ob England zu Recht zu den EM-Favoriten gehört – oder ganz nach Tradition unter den Erwartungen bleibt.
Delta-Variante des Coronavirus bereitet vor dem EM-Achtelfinale Sorgen
Neben dem Rasen bereitet die Delta-Variante des Corona-Virus Sorgen, die sich rasant ausbreitet im Vereinigten Königreich. Bundeskanzlerin Angela Merkel rief kürzlich schon zur Vorsicht auf, und Weltärztebund-Chef Frank Ulrich Montgomery rät deutschen Fans via “Passauer Neue Presse” von Reisen zum Spiel in London ab: "Schon ein Geimpfter, der die Abstandsregeln einhält und dort ins Stadion pilgert, geht ein begrenztes Risiko ein. Wer ungeimpft ist, handelt verantwortungslos.” Möglicherweise wird der deutschen Anhängerschaft die Entscheidung abgenommen. Laut “Telegraph” rechnet die Uefa damit, dass Deutschland sein Ticket-Kontingent nicht beziehen wird. Während England darauf hofft, dass der Fußball endlich nach Hause kommt (“Football’s Coming Home”), könnten die deutschen Fans genau dort bleiben – zu Hause.