Herzogenaurach/Bochum. Gegen Portugal könnte Mittelfeldmann Leon Goretzka in die deutsche Mannschaft rücken. Gerade seine Wucht könnte dem DFB-Team helfen.

Mit dem Kopf lenkt Leon Goretzka den Ball ins Ziel, und wenig später reißt er jubelnd die Arme hoch: Seine Mannschaft hat gewonnen und er hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen. Leider ist es nur das Training der deutschen Nationalmannschaft, leider ging es nur darum, den Ball aus der Luft in eine Tonne zu befördern. Aber so oder so ähnlich wünscht man es sich im deutschen Lager auch für das zweite Gruppenspiel bei der Europameisterschaft gegen Portugal (18 Uhr/ARD).

Die 0:1-Niederlage gegen Frankreich zum Auftakt hat einige Probleme aufgedeckt, vor allem fehlte es an Wucht und Durchschlagskraft im Angriff. Kurz: Es fehlte einer wie Goretzka, einer der mit viel Tempo und Dynamik in den Strafraum eindringen kann, der mit dem Kopf und den Füßen torgefährlich ist. 13 Mal traf er in 32 Länderspielen. Gegen Frankreich wurde der Mittelfeldspieler noch geschont, nachdem er wegen eines Muskelfaserrisses seit sechs Wochen kein Fußballspiel mehr bestritten hatte. Gegen Portugal aber wird er wieder zur Verfügung stehen. „Ob es schon für die Startelf reicht, weiß ich nicht“, sagt Bundestrainer Joachim Löw. „Aber er kann im Laufe des Spiels eine gute Option sein.“

Leon Goretzka wurde beim VfL Bochum ausgebildet

Und Löw braucht diesen Goretzka dringend, das findet zumindest Alexander Richter: „Jogi Löw weiß, was er an ihm hat, da bin ich mir sicher“, sagt er. „Leon ist inzwischen Stammspieler und geht voran.“ Nun ist Richter in dieser Sache einerseits befangen, andererseits weiß er ziemlich genau, wovon er redet. Denn er leitet das Talentwerk, die Nachwuchsschmiede des Erstliga-Aufsteigers VfL Bochum. Er hat Goretzka über viele Jahre mit ausgebildet – auch wenn er bei solchen Sätzen sofort betont, dass noch sehr viele Menschen mehr ihren Beitrag geleistet haben.

Der 50-Jährige hat sein Büro in der 4. Etage im Ostflügel der Geschäftsstelle an der Castroper Straße. Den Flur ziert eine Art Ahnengalerie aus Bildern von Spielern, die mal in der Bochumer Jugend gespielt haben. Gleich drei deutsche EM-Teilnehmer sind darunter: Ilkay Gündogan, Lukas Klostermann – und Goretzka. Und dann ist da ein gewaltiges Wimmelbild mit sehr vielen Nachwuchsspielern. Ein noch sehr junger Goretzka sitzt mittendrin und albert mit weit aufgerissenem Mund herum. Richter schmunzelt auch heute noch, wenn er das sieht – weil dieses Bild so typisch sei für den jungen Goretzka.

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Dann setzt sich der Nachwuchschef an den Schreibtisch in seinem zweckmäßig eingerichteten Büro, wo er schon Klostermann, Gündogan, Goretzka und vielen anderen hoffnungsvollen Talenten samt Eltern und Beratern gegenübersaß, und erzählt.

Goretzka schon in der Jugend mit breitem Horizont

2008 ist Richter zum Ruhrpottklub gekommen, da war der VfL noch kurze Zeit erstklassig, bevor er für lange Zeit in der Zweitklassigkeit abrutschte. Goretzka war damals 13, fiel dem Nachwuchschef aber früh auf. Zunächst, weil er nach einer Verletzung eine Bandage am Arm trug. Dann, weil er ziemlich gut Fußball spielen konnte. Und nicht zuletzt, weil er schon als Junge sehr klar und bestimmt auftrat. Als das Ausnahmetalent in die U15 kam, hatte deren Trainer den Klub gerade verlassen und Richter übernahm – bei einem eher kleinen Klub wie Bochum muss immer wieder mal improvisiert werden.

Und Goretzka verstrickt sich gleich in der ersten gemeinsamen Arbeit eine fußballfachliche Diskussion mit seinem Nachwuchsleiter. Der hat Recht, das sieht das Talent wenig später auch ein. Dennoch ist Richter beeindruckt. „Bei Leon hat man immer gemerkt, dass er sich anders mit dem Fußball auseinandergesetzt hat als viele andere“, sagt er. „Er hat sich auch ganz viele Gedanken gemacht über die Fußball-Themen jenseits des Rasens, wie etwa Ernährung oder Krafttraining.“

Leon Goretza zu seiner Zeit beim VfL Bochum.
Leon Goretza zu seiner Zeit beim VfL Bochum. © WAZ FotoPool

Es entwickelt sich ein besonderes Verhältnis zwischen dem gebürtigen Bochumer Goretzka und seinem Klub. Der Nachwuchschef und seine Leute wissen, dass man als Zweitligist besondere Anstrengungen unternehmen muss, um so ein Talent auszubilden und zu halten. Und so wird der kleine Leon auch mal außer der Reihe von der Schule abgeholt und bei DFB-Lehrgängen mit Essen versorgt, wenn er Hunger hat. „Das Verhältnis war schon sehr eng, die Ausbildung sehr individuell“, erzählt Richter. „Das passt zum VfL, das verkörpert unsere Identität. Und bei Leon war die Bindung noch etwas enger, weil er ein Bochumer Junge ist.“

Heute DFB-Star - aber Goretzka hat seine Wurzeln nicht vergessen

Und die Goretzkas wissen, was sie am Klub haben. Früh flattern die Angebote herein, erst von den großen Reviernachbarn Schalke und Dortmund, dann aus ganz Deutschland und Europa. Vater Konrad hört sich vieles an, und entscheidet immer wieder: Wir bleiben in Bochum. „Die Familie Goretzka war immer sehr dankbar, dass wir uns gekümmert haben. Und es war immer klar, dass sie uns das irgendwann mit der Unterschrift unter seinen ersten Profivertrag zurückgeben wollten“, sagt Richter. „Glauben Sie, dass das heute noch häufig vorkommt?“

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Die Antwort gibt er selbst: nein. Einen Berater nimmt sich die Familie erst zum ersten Profivertrag, vorher wird alles zwischen dem Vater und Richter geregelt. Goretzka Junior interessiert das eh nicht, er will in der Zeit lieber Fußball spielen. Man schätzt sich, man vertraut sich. Und auch, als er mit 18, schon als Profi, zum FC Schalke und später zum FC Bayern wechselt: Goretzka hat nicht vergessen, woher er kommt. Auf seinem Autokennzeichen steht auch heute noch die 1848, das Gründungsjahr des VfL. Und als er sich nach seiner Verletzung mit dem Physiotherapeuten Christoph Kaminski durch Reha und Aufbautraining quält, macht er das in Bochum, auf dem Gelände seines Jugendklubs. Und natürlich besucht er auch seinen alten Förderer in dessen Büro.

Es macht die Bochumer stolz, dass sie nicht nur einen hervorragenden Fußballer, sondern auch einen guten Jungen hervorgebracht haben. Einen, der auch in den Ausdauereinheiten stets vorwegmarschierte, der ein klares Ziel vor Augen hatte und viel dafür tat. Und dessen Wort immer Gewicht hatte. „Wenn er in der Kabine gesprochen hat, auch als Jungjahrgang in der U17-Bundesliga, haben die anderen schon zugehört. Er hat sich diesen Status durch seine Leistungen erarbeitet, aber auch durch seine Art“, sagt Richter. „Verantwortung zu übernehmen bedeutet ja, dass einem die anderen folgen, besonders auf einen achten. Leon hat das immer gehabt, hat das ausgestrahlt.“

Und das soll er nun idealerweise auch gegen Portugal ausstrahlen. Sein früherer Nachwuchschef wird am Fernseher zuschauen. Und er wird sich erinnern. An ein Frühtraining mit Ilkay Gündogan bei minus 14 Grad und Schneeverwehungen im Jahr 2008. An viele Gespräche mit Lukas Klostermann und seinen Eltern. Und natürlich an die ganz besondere Zeit mit einem ganz besonderen Jungen namens Leon Goretzka.