Basel/Essen. Die EM der Turner endet mit Medaillen für Dauser und Toba. Doch für das stärkste Zeichen sorgen die deutschen Frauen um Sarah Voss.

Die deutschen Turnerinnen Sarah Voss, Elisabeth Seitz und Kim Bui standen in den letzten Tagen bei der Turn-EM in Basel im Mittelpunkt, obwohl sie sportlich noch nicht ganz da sind, wo sie im Sommer bei den Olympischen Spielen in Tokio sein wollen. Der Grund klingt banal, und kommt doch einer Revolution im Frauenturnen gleich: Lange Hosen. Die deutsche Mehrkampfmeisterin Voss machte in der Qualifikation den Anfang. Sie widersetzte sich dem üblichen Dresscode in ihrem Sport und turnte statt im knappen Trikot, das ständig am Po wieder in Position gezuppelt werden muss, in einem glitzernden Turnanzug mit langen Ärmeln und Hosenbeinen. Sie wollte ein Zeichen setzten – und sah toll aus dabei.

Ihr ungewohntes Outfit bescherte der 21 Jahre alten Kölnerin nicht nur Daumen-Hoch-Gesten der internationalen Konkurrenz, sondern auch ein riesiges Medien-Echo in aller Welt. „Ziemlich verrückt. Dass das solche Wellen schlägt, hätte ich nicht erwartet“, sagte Voss im Gespräch mit dieser Redaktion. Auch Bundestrainerin Ulla Koch zeigte sich von den Reaktionen überwältigt, nachdem auch die Stuttgarterinnen Elisabeth Seitz und Kim Bui im Mehrkampffinale im Ganzkörperanzug aufgetreten waren: „Mit dieser weltweiten Aufmerksamkeit haben wir nicht gerechnet, es ging ja eigentlich nur darum, dass die Mädchen sich wohl fühlen.“

Sarah Voss sah "Wenn-dann-jetzt-Situation"

Die Hintergründe erklärte Sarah Voss so: „Wir Frauen wollen uns alle gut fühlen in unserer Haut. In der Sportart Turnen wird das aber immer schwieriger, je weiter man sich von seinem Kinderkörper entfernt.“ Als kleines Mädchen habe sie die knappen Anzüge als „nicht so hochdramatisch“ erlebt: „Aber als die Pubertät begann, als die Periode dazu kam, da hatte ich zunehmend ein ungutes Gefühl. Man fühlt sich manchmal ziemlich nackt.“ Im Alltag werde ganz selbstverständlich mit Hose geturnt. Warum also nicht auch im Wettkampf? Die Regeln lassen es schließlich zu. „Aber niemand macht das. Und wir haben uns bislang auch nicht getraut“, sagte Voss.

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Sie war nur an zwei Geräten angetreten und hatte schon geahnt, dass sie es nicht in ein Finale schaffen würde. Zu groß sei aktuell noch ihr Trainingsrückstand, nachdem sie im Februar zwei Wochen in Quarantäne war, weil es in ihrem nahen Umfeld einen positiven Corona-Fall gab. „Für mich war es eine Wenn-dann-jetzt-Situation“, erzählte sie. Und so fiel ihr die Aufgabe zu, als erste wenig Haut und viel Sport zu zeigen.

Volle Unterstüzung für die Turnerinnen

Aufgekommen seien die Diskussionen im Team vor rund einem Jahr, zum ersten Mal erzählten die Turnerinnen ihren Trainern, dass sie sich nicht immer wohl fühlen in den knappen Wettkampfanzügen. „Wir sind Fotografen ausgesetzt, die gern mal in unpassenden Situationen ein Foto schießen – und wir wissen dann nicht, was mit diesen Bildern passiert“, erklärte Voss.

Die Turnerinnen bekamen volle Unterstützung, auch wenn mancher Trainer ein bisschen wehmütig wurde, weil er fürchtete, „die schönen Beine, die tolle Muskulatur“ könnten nicht mehr gut genug erkennbar sein. So erzählte es Ulla Koch.

Sturz kostet Seitz Medaille - Podium für die Männer

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Die Bundestrainerin ist stolz auf ihr Team: „Die Mädchen sind erwachsen geworden, sie gehen inzwischen offener mit Sachen um, bei denen sie sich unwohl fühlen.“ 21, 27 und 32 Jahre sind Voss, Seitz und Bui alt – und waren damit das älteste Team bei der EM. Seitz konnte im Stufenbarren-Finale ihre Chance auf eine Medaille nach einem Sturz beim Jäger-Salto nicht nutzen und wurde Sechste. Bui belegte im Bodenfinale ebenfalls Platz sechs. Das Duo glänzte zudem im Mehrkampf mit den Plätzen fünf und sieben. „Beide sind sehr gut hier aufgetreten“, lobte Cheftrainerin Ulla Koch. Ihr Team will nun „Vollgas geben“ für Tokio. Sie habe sich immer bemüht, ihre Turnerinnen zu selbstständigen jungen Frauen zu erziehen, sagt Koch. Auch deren aktuelles Aufbegehren wertet sie als Erfolg.

Bei den Männern sorgten Andreas Toba (Hannover) mit Überraschungs-Silber am Reck und Lukas Dauser (Unterhaching) mit Bronze am Barren für reichlich Schwung Richtung Tokio. „Mit 30 Silber geholt“, sagte Toba und atmete tief durch: „Für mich ist das ein wahrgewordener Traum.“ Als der Medaillengewinn feststand, hatte der als „Hero de Janeiro“ bekannt gewordene Turner Tränen in den Augen und bekreuzigte sich.

Skandale hatten Turnen zuletzt erschüttert

Das Turnen ist zuletzt in der Öffentlichkeit vor allem mit Skandalen präsent gewesen. In Amerika ist der Teamarzt Larry Nassar zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden, weil er junge Turnerinnen über Jahre missbraucht hatte. In Deutschland wird der Trainerin Gabriele Frehse vorgeworfen, ihre Athletinnen schikaniert und überhart diszipliniert zu haben.

„Diese Dinge sind schockierend. Ich bin zum Glück nie einer solchen Behandlung ausgesetzt gewesen“, sagte Voss. „Aber wir sind ja auch Vorbilder für jüngere Athletinnen. Deshalb wollen wir natürlich alle ermutigen, in jeglicher Hinsicht für sich einzustehen. Vor allem immer dann, wenn man sich unwohl fühlt. Wir wollen, dass jeder diesen tollen Sport aus freien Stücken ausübt und weil er Spaß daran hat.“