Essen. Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler setzt auf ungewöhnliche Vorbereitung – und hat große Erwartungen für Tokio.
Thomas Röhler gilt unter den deutschen Speerwerfern als Tüftler, als Perfektionist. Er analysiert Wurf um Wurf akribisch, versucht alles aus Material, Technik und sich selbst herauszuholen. Thomas Röhler ist ein Modellathlet. Aber der Olympiasieger macht nicht nur durch seine Erfolge auf sich aufmerksam. Er hat auch was zu sagen. Er kann über mehr reden als den perfekten Wurf. Als Athletensprecher genießt er das Vertrauen seiner Kollegen, weil er Probleme klar anspricht. In der Corona-Krise und in unsicheren Olympia-Zeiten ist der 29-jährige Thüringer ein gefragter Gesprächspartner.
Herr Röhler, die Olympischen Spiele in Tokio rücken näher, es sind keine 100 Tage mehr. Sie haben das vor Rio ja schon mal mitgemacht. Fühlt es sich diesmal anders an?
Thomas Röhler: Definitiv, ja. Rio waren meine ersten Spiele. Auch da gab es sehr viele Unsicherheiten, vieles davon ist schon wieder in Vergessenheit geraten. Wir hatten eine politische Instabilität in Brasilien, wir hatten das Zika-Virus, da wurden Reiseplanungen über den Haufen geworfen und Pre-Camps abgesagt. Auch Rio waren definitiv nicht die planbarsten Spiele. Aber jetzt ist es noch einen Tacken schärfer, die Situation ist noch extremer.
Die Spiele wurden wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben, und auch jetzt ist klar: Wenn sie im Sommer tatsächlich stattfinden, dann ganz anders als üblich. Was erwarten Sie für die kommenden Wochen? Wird eine straighte Olympiavorbereitung möglich sein?
Thomas Röhler: Sie wird so straight, wie Corona das zulässt. Der Wettkampfkalender wird aktuell täglich neu durchgeschüttelt. Daran hängt natürlich auch die Qualifikation. Ich versuche aktuell, den Fokus weiter auf das Training zu legen. Wir können die Wettkämpfe einfach nicht sauber planen. Ich bin ein sehr rationaler Mensch, ich nehme die Situation so an. Wir müssen verdammt flexibel sein in diesem Jahr.
Haben Sie Sorge, dass Sie sich noch mit Corona infizieren könnten?
Thomas Röhler: Man muss alles geben, sich an die Maßnahmen zu halten und mit viel, viel Menschenverstand agieren. Aber das ist jetzt seit einem Jahr so. Da ändere ich nichts an meinem Konzept.
Die ersten Wettbewerbe in Hallen haben gezeigt, dass Athleten sich nicht ganz sicher sein können. Beim Fechten und bei der Hallen-Leichtathletik gab es viele positive Fälle.
Thomas Röhler: Das ist korrekt. Wir müssen uns alle nichts vormachen: Es wird Infektionen geben. Die Frage ist, wie damit umgegangen wird. Wie kann man dann schnell und verantwortungsbewusst im Sinne der Athleten handeln.
Warum die Athleten, die nach Tokio fahren, nicht einfach impfen?
Thomas Röhler: So viele sind es ja nicht, wäre die kurze Antwort. Aber das ist eine gesellschaftspolitische Angelegenheit, die auf anderer Ebene geklärt werden muss als auf der, dass ein Sportler sagt: Ich würde gern geimpft werden. Das Thema ist wichtig. Eine Impfung würde uns vieles erleichtern. Aber wir Sportler müssen da aufpassen, nicht nur uns muss etwas erleichtert werden, sondern Menschen in vielen gesellschaftlichen Bereichen brauchen und wollen eine Impfung, um wieder ins Rollen zu kommen.
2020 sind Sie als Speerwerfer kaum in Erscheinung getreten. Woran lag das? An Corona, an der Olympia-Absage, an der Geburt Ihres Sohnes im Juli?
Thomas Röhler: Das war eine Mischung. Da war die neue familiäre Situation, die ich genießen konnte. Aber ich wollte aber auch meinem Körper mal die Chance geben, nach zehn Jahren Leistungssport Luft zu holen. Dieses verrückte Jahr 2020 hat mir die Möglichkeit dazu gegeben. Ich bin wirklich zufrieden mit der Entscheidung. Und ich lag ja nicht ein Jahr lang rum.
Auf Instagram sieht man Sie viele ungewöhnliche Sachen machen: Sie versuchen, auf einer Slackline Fahrrad zu fahren, laufen im Handstand und ziehen dabei ein Gewicht hinter sicher her oder stemmen einen riesigen Treckerreifen quer durch die Halle. Hilft das alles, den Speer weiter zu werfen?
Thomas Röhler: Das hilft hoffentlich, den Speer sehr lange sehr weit werfen zu können. Wir haben ein sehr breit aufgestelltes Training, um körperlich gesund zu bleiben. Der Speerwurf ist eine hochriskante Sportart. Und natürlich wird nicht jeder Trainingsinhalt, den man da sieht, täglich praktiziert. Ich versuche auch, die Leute da draußen zu motivieren, kreativ zu sein. Es gibt noch viel zu viele, die weiterhin komplett stillstehen, die fast ein Jahr lang keinen Sport treiben konnten oder durften. Da hilft so ein kleiner Austausch, da bin ich gern für die Leute da.
Im September hat ihr Kollege und größter nationaler Rivale Johannes Vetter seinen Speer auf unglaubliche 97,76 Meter fliegen lassen. Wie haben Sie das erlebt?
Thomas Röhler: Ich habe es nicht live gesehen, sondern in der Aufzeichnung. Das war natürlich eine enorme Leistung. Ein Wurf, der nicht alle Jahre passiert. Das habe ich respektvoll wahrgenommen, mit der Leistung ist Johannes in die Geschichtsbücher eingegangen.
Konnten Sie sich darüber freuen, dass das geht, dass der Speer so weit fliegen kann, dass der 1996 von Jan Zelezny aufgestellte Weltrekord tatsächlich wackelt?
Thomas Röhler: Das stand für keinen von uns zur Debatte. Das war ein Beweistag – wenn die Bedingungen stimmen, kann der Speer einfach mal richtig weit segeln. Die 100 Meter sind die machbare Distanz in unserem Sport. Auch wenn sie mit dem neuen Speer noch nicht geworfen wurden. Bei uns wollen viele diesen Rekord eines Tages brechen. Ich war der erste, der schon vor einigen Jahren gesagt hat, dass das Ziel rein physikalisch machbar ist. Jetzt ist die Frage, wann es passiert und wer es schaffen wird.
Und der Gedanke: Verdammt, warum er und nicht ich – wie präsent war der nach dem Fast-100-Meter-Wurf von Johannes Vetter?
Thomas Röhler: So funktioniert Sport nicht…
… aber so funktionieren Menschen.
Thomas Röhler: Ja. Aber du kannst nicht bei jedem Wettkampf sein. Wenn du dann jedes Mal denkst hätte, wäre, könnte – es gibt nun mal kein Leben im Konjunktiv. Ich habe das aufgenommen, hingenommen, geiler Speerwurf. Aber ich war nicht da. Ich persönlich bin gar nicht so der rekordorientierte Werfer. Ich hoffe auf eine lange, gesunde Karriere. Ich gucke auf Wettkämpfe Mann gegen Mann.
Mann gegen Mann, Röhler gegen Vetter, das wird spannend dieses Jahr.
Thomas Röhler: Definitiv. Aber es gibt noch viele Athleten weltweit, die im letzten Jahr keinen Speer in die Hand genommen haben. Aber die haben trainiert. Da werden wir uns noch alle umschauen, wie viele Athleten das Speerwerfen gelernt haben, die wir noch nicht gesehen haben. Die haben auch alle Olympia-Ambitionen. Das Duell auf Vetter gegen Röhler runterzubrechen, wäre töricht.
Wenn Sie wählen müssten (oder dürften), würden Sie noch mal Olympiasieger werden wollen, oder lieber der erste Werfer, der die 100-Meter-Marke übertrifft?
Thomas Röhler: Dann würde ich den Olympiasieg nehmen.