München. Bayern-Profi Joshua Kimmich ist mit dem am Ende glücklichen Champions-League-Sieg in Moskau nicht zufrieden. Er will Lehren daraus ziehen.

Die Manöverkritik geriet schonungslos, und Joshua Kimmich bemühte sogar eines der schärfsten Schwerter. „Peinlich“, nannte der defensive Mittelfeldspieler eine von mehreren Szenen, in denen der FC Bayern nicht wie der FC Bayern agiert hatte. Als Führungsspieler, die Kraft ihrer Leistungen, ihres Auftretens und ihres Ehrgeizes eine Mannschaft zusammenhalten und mitziehen, darf man sich auch mal solch äußerst kritischer Bestandsaufnahmen bedienen.

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Manchmal geht es gar nicht anders, allein schon, um glaubwürdig zu bleiben. Und dass Kimmich die ziemlich unschönen Urteile „peinlich“ und sogar „Idiot“ nicht über einen Kollegen fällte, sondern öffentlich über sich selbst, dürfte seine Führungsrolle und Autorität in der Münchner Mannschaft weiter gestärkt haben.

Kimmich mit Selbstkritik nach Fehlschuss

Sein Akt der schonungslosen Selbstkritik bezog sich auf eine Torchance, die er am Dienstagabend im zweiten Gruppenspiel der Champions League bei Lokomotive Moskau freistehend aus wenigen Metern vergeben hatte. Es wäre das vorentscheidende 2:0 gewesen in einer Partie, die die Münchner dominiert hatten, nach der sie aber wie Kimmich von „Glück“ sprechen mussten, 2:1 (1:0) gewonnen zu haben.

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Und das trotz Leon Goretzkas früher Führung (13.) und Chancen zur Entscheidung, wie Kingsley Comans Pfostenschuss (25.) nach demselben Angriffsmuster mit Corentin Tolissos Diagonalpass und Benjamin Pavards Volleyflanke. Hinzu kam Kimmichs Großchance (57.).

Angeschossen hatte er dabei das Abwehrbein von Slobodan Rajkovic, der einst mit dem HSV die Klatschen beim FC Bayern (2:9/2013 und 0:8/2015) erlebt hatte. Diesmal hätte es für ihn und seine Kollegen nach Anton Miranchuks 1:1 (70.) sowie weiteren gefährlichen Kontern sogar fast zum Sieg gegen den eigentlich übermächtigen Favoriten gereicht.

Javier Martinez leitet Siegtor ein

Doch dann schaltete sich erneut Kimmich ein, nahm mit dem Rücken zum Tor ein Zuspiel von Javier Martínez an, drehte sich und schoss den Ball technisch anspruchsvoll aus rund 20 Metern zum 13. Sieg in Serie in der Champions League ein (79.). „Ein Arbeitssieg, es war auf jeden Fall nicht unser bestes Spiel“, befand Kimmich bei DAZN auch in Bezug auf sich selbst treffend. Froh war er, nicht der „Idiot“ wegen seiner ausgelassenen Chance geblieben zu sein. „Ich war es der Mannschaft auf jeden Fall schuldig“, sagte Kimmich bei Sky.

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Es war sogar ein Arbeitssieg, den man „dreckig“ nennen könne, ergänzte Hansi Flick. Die schärfsten Schwerter zog der Trainer aber nicht, das ist nicht seine Art. „Unnötige Meter“ und eine fehlende Absicherung monierte er vergleichsweise sanft. Das lag daran, dass es seine Elf nicht verstanden hatte, Moskaus viele lange Bälle hinter die Abwehrkette durch konsequentes Pressing zu unterbinden. Beobachtet hatte Flick weitere Nachlässigkeiten, wie beim 1:1.

Dabei habe man „nicht so die Linie gehalten, wie wir das normal machen. Da war ein Spieler den Tick zu weit hinten drin und hat das Abseits aufgehoben“, sagte er und meinte Innenverteidiger Niklas Süle, „das sind Dinge, die wir besser machen müssen, das können wir auch.“ Damit beließ es Flick, jedenfalls öffentlich. „Es ist so, dass man auch mal so Spiele hat, und wenn man sie gewinnt, dann ist es umso schöner“, sagte er und gab nach der Rückkehr am frühen Mittwochmorgen samt Corona-Testungen um drei Uhr trainingsfrei.

Manuel Neuer als Zeitspieler gefordert

Auch Kapitän Manuel Neuer, nicht nur als rettender Torwart, sondern auch als rettender Libero und am Ende sogar als Zeitspieler gefordert, erkannte auf mildernde Umstände. „Immer verteidigen kann man das nicht“, sagte er zu den langen Bällen, „grundsätzlich ist es ja auch unsere Spielweise, dass wir hochstehen und den Gegner vorne attackieren.“ Was diesmal aber nicht funktionierte, ähnlich wie zuletzt bei der 1:4-Niederlage in der Liga bei der TSG Hoffenheim, erinnerte Kimmich.

Ein paar Münchner Blaupausen, negative wie positive, ließen sich also für künftige Gegner wie Köln am Samstag erkennen. Darunter auch jene entscheidende Aktion von Kimmich, die sich ins Bild seines immer weiter steigenden Werts für die Mannschaft fügte, den er auch in der Nationalelf unter Beweis stellt. Bei den Münchnern sind seine gewinnbringenden Momente besonders regelmäßig zu bestaunen.

Im Mai entschied er die Meisterschaft mit einem Lupfer gegen Dortmund. Im Finale der Champions League bediente er den Torschützen Coman mit einer Flanke. Im Supercup, erneut gegen Dortmund, traf er im Liegen mit einem Dropkick, der von mindestens so viel Willen geprägt war wie von Akrobatik.

Neonrote Werbeaufschrift als Makel

Nun kam sein hochwertiger Rechtsschuss hinzu in einem Spiel, das auch bei ihm von einigen Makeln gekennzeichnet war. Darunter nebenbei auch jener, in der ersten Halbzeit in einem Trikot mit einer schwarzen statt neonroten Werbeaufschrift aufgelaufen zu sein.

Dennoch lebte gerade Kimmich erneut das vor, was Neuer beschrieb. „Wir glauben immer an uns. Dieser Spirit ist in der Mannschaft“, sagte er, „wir können uns aber nicht darauf verlassen, wir müssen immer wieder aufs Neue was dafür tun.“

Wie Kimmich, nachdem er nun acht seiner jüngsten zwölf Tore von außerhalb des Strafraums erzielt hat. Trainiert habe er das, denn „das war eigentlich, auch in meiner Jugend und jetzt noch, nicht wirklich meine Stärke, weil ich da so‘n bissl fehlende Schusskraft hatte, gerade in der Jugend“, sagte der Sechser, „in letzter Zeit klappt’s ganz gut. Aber davor, der war schon peinlich, dass ich den nicht gemacht habe.“

Von so einem nehmen die Kollegen Kritik deutlich eher an. Wie jene über die Einladungen zu Kontern. Da habe man sich „nicht gut angestellt“, das sei „viel zu einfach“ für Moskau gewesen, „das darf uns auf dem Niveau und in der Häufigkeit nicht passieren“, sagte Kimmich deutlich über das schlichte Muster „langer Ball, verlängert, und dann standen sie allein vorm Tor. Sie haben’s zum Glück schlecht ausgespielt.“ Anders als zuletzt Hoffenheim. Und, das war Kimmichs Lehrauftrag, womöglich kommende Gegner.