Herne. . Vor seinem 80. Geburtstag spricht der ehemalige BVB-Torwart Hans Tilkowski über verloren gegangene Werte und seine Freundschaft zu Geoff Hurst.

„Da kommt der Herr Tilkowski!“, ruft ein Junge, und plötzlich ruht der Ball. Die Kinder, sie stammen aus Flüchtlingsfamilien, empfangen den Besucher freudig. Sie wissen, wem sie es zu verdanken haben, dass hier auf dem Hof ihrer Hauptschule in Herne, die seit 2008 Hans-Tilkowski-Schule heißt, nun ein kleines Kunstrasenfeld steht. Der Namenspatron hatte zwei Jahre lang darum gekämpft, er knüpfte Kontakte zum DFB und zu Sponsoren, jetzt strahlt auch er.

Die Kinder wissen auch, warum Hans Tilkowski im Fußball weltberühmt wurde. 1966 musste er als Nationaltorwart den umstrittensten Treffer der Fußball-Geschichte hinnehmen, das berüchtigte Wembley-Tor, das 3:2 beim 4:2-Sieg der Engländer im WM-Finale. Auch zu seinem 80. Geburtstag am Sonntag kommt der Herner an diesem Thema nicht vorbei.

Herr Tilkowski, wenn Sie jedes Mal, wenn Ihnen die Frage ,War der Ball drin oder nicht?’ gestellt wurde, einen Euro bekommen hätten . . .

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Hans Tilkowski: . . . dann wäre das wohl noch mehr Geld, als ich durch Spenden-Aktionen für Bedürftige gesammelt habe. Also weit mehr als eine Million Euro.

Der Ball sprang von der Latte nach unten, kam vor der Linie auf – und doch wurde auf Tor entschieden. Sind Sie also ein Befürworter der Torlinientechnik, die in Kürze in der Bundesliga eingeführt wird?

Tilkowski: Nein, davon bin ich kein Freund. Die Gelder könnte man besser für soziale Bereiche nutzen. Außerdem spielen alle nach denselben Regeln, aber in den unteren Klassen können sich die Vereine keine Torkameras leisten. Und die Diskussionskultur geht auch verloren, davon lebt der Fußball doch. Der Endspiel-Schiedsrichter Gottfried Dienst aus der Schweiz hat übrigens mal zu mir gesagt: Gut, dass ich das Tor gegeben habe, sonst würde keiner mehr von mir sprechen. Wir haben beide gelacht.

Hat dieser eine Moment im Sport Ihr Leben geprägt?

Der spielentscheidende Augenblick - das 3:2 im Endspiel England gegen Deutschland beim Fußball-WM-Turnier in Wembley am 30.07.1966 (Archivfoto). Der Ball flog gegen die Latte, nach unten und hüpfte aus dem Tor. Der Schiedsrichter ließ das Tor gelten. Bis heute ist umstritten, ob der Ball vor oder hinter der Linie aufgeschlagen war. (Foto: dpa)
Der spielentscheidende Augenblick - das 3:2 im Endspiel England gegen Deutschland beim Fußball-WM-Turnier in Wembley am 30.07.1966 (Archivfoto). Der Ball flog gegen die Latte, nach unten und hüpfte aus dem Tor. Der Schiedsrichter ließ das Tor gelten. Bis heute ist umstritten, ob der Ball vor oder hinter der Linie aufgeschlagen war. (Foto: dpa) © dpa

Tilkowski: Geprägt? Nein. Er gehört zu meiner Biografie, aber als Mensch wäre ich heute kein anderer, wenn wir damals Weltmeister geworden wären. Glaubwürdigkeit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Respekt – das sind immer meine Eckpfeiler geblieben, die habe ich schon von meinen Eltern mitbekommen.

Vermissen Sie diese Werte im heutigen Profifußball?

Tilkowski: Da sind mir zu viele als Ich-AG unterwegs. Und die Kinder bekommen genau mit, wenn die Fußballer in Dortmund nach Toren mit Masken herumlaufen oder in Schalke teure Autos zu Schrott fahren.

Zu Ihrer Zeit . . .

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Tilkowski:. . . hat Bundestrainer Sepp Herberger uns klare Richtlinien vorgegeben. Ein Düsseldorfer Spieler hat mir damals in Herne mal die Mütze ins Gesicht gezogen. Ich habe ihm daraufhin in den Allerwertesten getreten. Der Schiedsrichter hatte nichts gesehen, aber Herberger bestellte mich nach Duisburg in die Sportschule Wedau. Auf einer Leinwand führte er mir die Szene vor. Ich fragte ihn, ob er auch gesehen habe, was der andere gemacht hatte. Er sagte nur: Das interessiert mich nicht, Sie sind Nationalspieler! Trotz der Aussprache hat er mich dann für das nächste Länderspiel gegen Dänemark nicht nominiert. Ich habe daraus viel gelernt.

Mit Geoff Hurst, dem Schützen des Wembley-Tores von ‘66, sind Sie heute befreundet.

Tilkowski: Er konnte ja nichts dafür, dass dieses Tor gegeben wurde. Mit den Engländern sind wirklich tolle Freundschaften entstanden. Sicher auch durch unser tadelloses Auftreten nach der Niederlage.

1965 wurden Sie als erster Torwart Deutschlands Fußballer des Jahres. Wie sehen Sie die Torhüter heute?

Tilkowski: Ich schätze Manuel Neuer, weil er das verkörpert, was ich mir vorstelle, wenn auch manchmal etwas zu extrem. Aber wenn vom modernen Torwartspiel die Rede ist: Ich habe mich zu einer Zeit, als noch nicht ausgewechselt werden durfte, zweimal an den Fingern verletzt – da musste ich auch schon mitspielen können. Herberger sagte immer: Wenn Sie eine Parade machen, haben Sie vorher etwas verpasst. Und: Ich brauche einen Torwart für die Mannschaft, nicht fürs Publikum.

Ihr früherer Verein Westfalia Herne ist einer von vielen Traditionsklubs im Ruhrgebiet, die nur noch unterklassig spielen. Woran liegt das?

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Tilkowski: Durch den Niedergang des Bergbaus, der eng mit dem Fußball verknüpft war, ging viel Identifikation verloren. Trotzdem steckt hier im Revier eine große Kraft. Ich finde, dass wir Ruhrgebietler uns zu klein machen, wir müssen uns vor niemandem verstecken.

Sie werden am Sonntag 80 Jahre alt. Mit welchen Gefühlen?

Tilkowski: Mit Dankbarkeit und Stolz. Ich bin dankbar dafür, dass ich trotz des einen oder anderen Rückschlags so lange gesund geblieben bin. Und auch dafür, eine Frau gefunden zu haben, mit der ich nun schon 56 Jahre verheiratet bin. Und ich freue mich darüber, dass der Fußball mir so viel gegeben hat und ich mich dadurch auch für Menschen, die Hilfe benötigen, einsetzen kann. Ich bin ein Kriegskind, ich habe die Zeit der Armut nicht vergessen. Zu meinem Geburtstag werden allerhand Leute zusammenkommen. Ich möchte von ihnen keine Geschenke haben, sondern bitte sie um Spenden für soziale Zwecke.

Dass es eine Hans-Tilkowski-Schule gibt, ist sicher für beide Seiten eine schöne Sache, oder?

Tilkowski: Die Kooperation ist hervorragend, es ist eine Schule ohne Skandale. Ich gebe den Kindern eine gewisse Identität, ich zeige ihnen: Ich bin bei euch! Deshalb ist mir auch das neue Mini-Spielfeld so wichtig. Kinder aus 31 Nationen lernen an dieser Schule, durch den Fußball können sie am besten zueinander finden. Denn keiner spricht mehr Sprachen als der Ball.