Bochum/Gelsenkirchen. Busse und Bahnen stehen still am Freitag. Wieder einmal. Ein Grund: Es gibt Busfahrer, die auf Wohngeld angewiesen sind.

Schon wieder Streik? Am Freitag müssen zehntausende Fahrgäste erneut improvisieren, weil ihr Bus oder ihre Bahn einfach nicht fährt. Die Gewerkschaft Verdi hat zum Nahverkehrs-Warnstreik in sechs Bundesländern aufgerufen – und allein in NRW betrifft dies 35.000 Beschäftigte in mehr als 30 Unternehmen. Aber haben die Fahrerinnen und Fahrer nicht schon im vergangenen Jahr mehrfach gestreikt: im Februar, im März, im April? Zwei Verdi-Mitglieder stellen sich der Frage: „Warum streiken Sie schon wieder?“

„Das müssen wir tatsächlich auch unseren Kollegen erklären“, sagt Martin Tunnat, Technischer Ausbilder bei der Bogestra, Betriebsrat und Vertrauensmann. Die Tarifverträge sind so komplex aufgebaut, dass selbst die Betroffenen nicht immer durchsteigen: Im Winter 2024 ging es um den Manteltarifvertrag für die Beschäftigten im Nahverkehr, aber darin sind nur Rahmenbedingungen geregelt wie freie Tage und eine Jahressonderzahlung. Die Löhne aber sind gekoppelt an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, der jetzt verhandelt wird.

Auch in Kitas wurde schon gestreikt

Der Tarifvertrag betrifft nicht nur den Nahverkehr, sondern 2,6 Millionen Beschäftigte bundesweit und 640.000 in NRW, zum Beispiel bei Stadtwerken und Müllverbrennungsanlagen. Dort wird morgen übrigens auch gewarnstreikt, was die wenigsten Bürger bemerken dürften. Auch Kitas, Seniorenheime und Kliniken wurden in den vergangenen Wochen schon bestreikt.

„Auch im eigenen Freundeskreis gibt es welche, die sich ärgern oder die nicht nachvollziehen können, warum wir wieder streiken“, sagt Tunnat. „Ein Freund, der einen weiten Arbeitsweg hat, musste sich einen Tag Urlaub nehmen. Das tut uns wirklich leid. Aber wenn der Streik nicht spürbar wäre, gäbe es keine Wirkung. Ich selbst habe ein Kind, das mit Bus und Bahn zur Schule kommt. Wir müssen auch sehen, wie wir das nun geregelt kriegen.“

Acht Prozent mehr Lohn

Es geht nun zwar ums Geld – acht Prozent, mindestens aber 350 Euro mehr im Monat fordert Verdi – aber das Hauptargument ist ein anderes: „Wir versuchen ja auch, durch bessere Löhne und Bedingungen unser Unternehmen attraktiver zu machen“, sagt Tunnat. „Dann wären wir im Konkurrenzkampf um Fachkräfte besser aufgestellt“ – und im Alltag würden weniger Fahrten ausfallen. Denn momentan befinden sich die Nahverkehrsbetriebe in einem Teufelskreis.

Dominik Wagner kam als Quereinsteiger zu seinem Job als Busfahrer. Beruflich begonnen hatte er mit einer Ausbildung zum Metallbauschlosser. Dann führte er zwei Trinkhallen. 
Dominik Wagner kam als Quereinsteiger zu seinem Job als Busfahrer. Beruflich begonnen hatte er mit einer Ausbildung zum Metallbauschlosser. Dann führte er zwei Trinkhallen.  © Unbekannt | Privat/Vestische Straßenbahnen

„Es gibt junge Arbeitskollegen, die zwei kleine Kinder haben, und auf Wohngeldzuschüsse angewiesen sind“, sagt Dominik Wagner. Er arbeitet selbst als Busfahrer bei den „Vestischen Straßenbahnen“ im Kreis Recklinghausen und organisiert dort den Warnstreik am Freitag. „Leider sind das keine Einzelfälle. Ein Busfahrer, der neu anfängt, kommt auf 3002 Euro brutto. Wenn es Kinder gibt und die Frau noch nicht arbeiten kann, reicht das Gehalt regelmäßig nicht aus zum Leben.“ Es kommt hinzu: „Wir sind gezwungen, ein Auto zu halten. Denn wir sind der erste Bus morgens und der letzte in der Nacht.“

Enttäuscht vom System

Wagner selbst ist unverheiratet und ohne Kinder, er kommt mit seinen 3431 Euro brutto gut klar. Aber es gebe Kollegen, sagt Wagner, die wollen am liebsten gar keine Lohnerhöhung, weil dann das Wohngeld wegfalle und sie womöglich schlechter stünden. „Natürlich sind die Kollegen enttäuscht vom System. Und wie fühlen sich eigentlich die Oberbürgermeister und Landräte dabei, wenn ihre Angestellten zugleich von den Sozialkassen leben müssen?“

Netto kommt ein Busfahrer mit Zuschlägen auf bis zu 2600 Euro, schätzt Martin Tunnat in Bochum. Ein gelernter Mechatroniker in der Frühschicht wird etwas darunter liegen. Es komme immer wieder vor, dass Kollegen abgeworben werden, berichten beide Gesprächspartner. Signaltechniker seien gefragt, aber auch Speditionen und private Busunternehmen suchen Fahrer. „Einige Kollegen haben sich entschieden, Brote auszufahrern“, sagt Wagner. „Weil die Arbeitsbedingungen dann doch nicht so waren, wie sie es sich vorgestellt haben, sind einige aber wieder zurückgekommen.“

Die unbesetzten Stellen belasten die Belegschaften. Bei der Bogestra allein sollen die 1150 Fahrerinnen und Fahrer einen Berg von rund 90.000 Überstunden angehäuft haben. Die Folge: immer mehr Kollegen melden sich krank. „Vor der Pandemie war ein Krankenstand von zehn Prozent die Ausnahme“, sagt Tunnat. „Heute ist das schon gut, in der Spitze sind es bis zu 20 Prozent.“

Neueinstellungen und Fluktuation

Die Vestische musste wegen des hohen Krankenstandes Ende 2022 sogar ihren Fahrplan ausdünnen. Mittlerweile gab es 250 Einstellungen und er läuft wieder normal. Viele Verkehrsbetriebe haben massiv angeworben, bei der Vestischen werden zum Beispiel die teuren Führerscheine zu günstigen Konditionen angeboten. Im ganzen Ruhrgebiet sind viele Fahrer in der Ausbildung. Auch die Fahrschule der Bogestra komme kaum hinterher, berichtet Tunnat. Aber das Bild trügt etwas, denn früher hätten Fahrer ihren Führerschein oft mitgebracht. Heute gebe es mehr Quereinsteiger, die man erst ausbilden müsse. Und die Fluktuation bleibt hoch. Einige sind schnell wieder weg, siehe Abwerbung.

Die Arbeitgeber, also Bund und Kommunen, halten die Forderungen der Gewerkschaft dennoch für unbezahlbar. Die möchte zum Lohnplus von acht Prozent drei zusätzliche freie Tage durchsetzen, für Gewerkschaftsmitglieder sogar vier. Erst Mitte März wird weiter verhandelt. Bis dahin sind Streiks immer wieder möglich.