Gelsenkirchen. Die Revierstadt stand immer für Kohle und Fußball. In den 50er- und 60er-Jahren spielte auch die Textil-Branche eine große Rolle. Dann kam sie aus der Mode.

Der Fund von drei Ballen Fallschirmseide in einer alten Ziegelei im Jahre 1945 macht Martin und Dora zu reichen Menschen. Dora näht aus der Seide Blusen, später entwirft sie ganze Kollektionen. Martins Organisationstalent verhilft zum Aufbau einer Bekleidungsfirma, die schließlich in Gelsenkirchen-Buer 200 Mitarbeiter beschäftigt. So schreibt Irina Korschunow (1925-2013) in ihrem Roman „Fallschirmseide“ aus dem Jahr 1990. Fiktiv, ganz klar. Aber auch ganz real: Denn Gelsenkirchen, heute kaum zu glauben, war in den 50er- und 60er-Jahren eine der Textilmetropolen in Deutschland.

„Auf dem Wege, ein Zentrum modischen Geschmacks zu werden“

„Kleiderkünste zwischen tausend Feuern“ titelten die „Gelsenkirchener Blätter“ in den 50er-Jahren. Stets im März jagte eine Modenschau die nächste, präsentierten die Modehäuser schicke Oberbekleidung für Damen und Herren. „Ein einprägsames Zeichen dafür, wie sehr diese früher so verlästerte Stadt auf dem Wege ist, zu einem Zentrum modischen Geschmacks zu werden“, hieß es in dem Halbmonatsmagazin weiter.

Auch interessant

Tatsächlich hatte es die von Bergbau und Schwerindustrie geprägte Stadt nach Kriegsende in wenigen Jahren geschafft, die Bekleidungsindustrie durch systematische Ansiedlung als fünfte Säule der lokalen Wirtschaft zu etablieren – neben Kohle, Eisen und Stahl, Chemie sowie Glas. Während ihrer Hoch-Zeit beschäftigten rund 50 Betriebe bis zu 7000 Menschen. Neben Gelsenkirchen waren auch Essen, Recklinghausen, Herne und Wattenscheid ganz oben in der deutschen Modebranche angekommen. Man beflügelte sich wechselseitig.

Mehr Texte aus Ihrer Digitalen Sonntagszeitung lesen Sie hier:

Arbeitsplätze vor allem für Frauen aus Gelsenkirchen

Die Stadtväter hatten seinerzeit sehr schnell und richtig erkannt, die einseitig ausgerichtete Wirtschaft Gelsenkirchens durch einen „Strukturwandel ohne Gefahren“, wie sie sagten, breiter aufzustellen. Die Konsumgüterindustrie schien, wie sich in den Wirtschaftswunderjahren letztlich bestätigte, genau das richtige Feld zu sein. Mit der Textilbranche wurde vor allem für Frauen und Mädchen Arbeit geschaffen, die sonst kaum Jobchancen hatten. Viele von ihnen kamen mit ihren Männern oder Vätern aus dem Osten, waren größtenteils ungelernt. Das tat der Qualität der Mode aber keinen Abbruch.

Auch Firmenchef Klaus Steilmann aus Wattenscheid, hier 1987 mit Designer Karl Lagerfeld (l.) ließ zeitweise in Gelsenkirchen seine Mode produzieren.
Auch Firmenchef Klaus Steilmann aus Wattenscheid, hier 1987 mit Designer Karl Lagerfeld (l.) ließ zeitweise in Gelsenkirchen seine Mode produzieren. © WAZ FotoPool | OTTO, INGO

„Man kann doch wohl sagen, dass sich Gelsenkirchens diesjährige Frühjahrs- und Sommermodenerzeugnisse in Qualität und Preisgestaltung allenthalben sehen lassen können. Daher erklärt sich auch die Tatsache, dass die Zahl der auswärtigen Kunden, die in die Stadt der tausend Feuer kommen, von Tag zu Tag größer wird“, frohlockten die „Gelsenkirchener Blätter“. Und der „Rheinische Merkur“ schrieb 1948 begeistert: „Mut und Energie haben gesiegt. Die Ruhrkohle-Großstadt ist ein wichtiges Zentrum der Bekleidungsindustrie geworden. Wo in einem ausgebrannten Warenhaus vor wenigen Monaten noch Trümmerhaufen lagen, sausen heute vollautomatische Nähmaschinen in endloser Reihe und stoßen in einer für den Laien unvorstellbar kurzen Zeit Feilgenhauer-Modelle am Fließband aus. Im Klang von Radiomusik, welche Gruppenleiterinnen, Zuschneiderinnen und Rotorbüglerinnen beschwingt.“

„Kleiderkünste zwischen tausend Feuern.“

„Gelsenkirchener Blätter“ in den 50er-Jahren

Das ist lange, lange her. In den 70er-Jahren setzte der Niedergang der Bekleidungsbranche ein. So rasant der Aufstieg war, so rasant ging es auch wieder bergab. Alsbald begann der Siegeszug preisgünstiger Textilien, vorwiegend in Asien hergestellt. Der im „Rheinischen Merkur“ noch so gelobte Modehersteller Feilgenhauer musste bereits 1986 Konkurs anmelden. Das in den 50er-Jahren gegründete Unternehmen Marcona Kleidung wurde 2008 verkauft und übersiedelte 2011 nach Bergkamen. 2016 musste die Bekleidungsfirma Gelco, die bereits seit 1982 ausschließlich in Osteuropa und Asien produzieren ließ, ihren Betrieb aufgeben. Ein Jahr später schloss die Modefirma Biba. Das bekannte Lable Steilmann aus Bochum-Wattenscheid, das auch in Gelsenkirchen ansässig war, wurde 2006 verkauft, der Standort nach Bergkamen verlegt. 2016 war das Unternehmen insolvent.

Kometenhaft erstrahlte und erlosch die Eurovia GmbH am Gelsenkirchener Modehimmel. Der westfälische Unternehmer Fritz-Karl Schulte, der bis dahin Strümpfe („nur die“) und Herrenhemden produzierte, kaufte 1965 im Ortsteil Resse ein Grundstück von der Stadt, ließ moderne Fabrikhallen errichten und begann im März 1966 mit Herstellung von Pullovern – bis zu 30.000 täglich. Doch nur zehn Jahre später war alles vorbei: 600 Mitarbeiter standen auf der Straße.

Auch interessant

Aus Ruhrgebiet für Kenner, Rolf Kiesendahl u. Sylvia Lukassen, Ellert&Richter, Hamburg, 2021

Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.