Remscheid. Finn schreit als Baby jeden Tag, braucht permanenten Körperkontakt und schläft nicht. Lisa Köchling spricht über den Alltag mit High Need Baby.

Das Schreien ihres Sohnes hat den Alltag von Lisa Köchling lange Zeit bestimmt. So hatte sie das Mama-Sein nicht erwartet. Man muss sich die Situation so vorstellen: Lisa Köchling und ihr Partner nehmen ihren neugeborenen Sohn Finn (Name geändert) mit nach Hause, und fast ein Jahr lang schreit er jeden Tag nahezu ununterbrochen. Meist sind es drei Stunden am Stück. Dann schläft er für 20 Minuten ein vor Erschöpfung, wacht auf und schreit weiter. Finn braucht permanenten Körperkontakt. Tagsüber wird er getragen, nachts schläft er auf Lisa Köchlings Gesicht. Zu viele Reize überfordern ihn. „Es hat mich fertig gemacht“, sagt die 36-Jährige.

Ihre Hebamme war es, die für Finns Verhalten schließlich den Begriff „High Need Baby“ einbrachte: hochbedürftiges Kind. Das betrifft in Deutschland gar nicht mal so wenige Babys: Fast jedes sechste schreit bis zum dritten Lebensmonat exzessiv, heißt es in einem Bericht der Barmer Krankenkasse. Bis zum sechsten Lebensmonat sinke die Rate dann auf sechs Prozent. Ab da würden noch 2,5 Prozent der Babys ungewöhnlich viel schreien. Hinzu kommt laut Barmer, dass viele betroffene Babys motorisch unruhig, quengelig und schreckhaft sind, schlecht schlafen, sich kaum trösten lassen und extrem auf Reize von außen reagieren.

Hebamme: „Der Stresspegel der Mütter und Väter ist die ganze Zeit oben“

„Für Eltern ist das eine Extremsituation“, sagt Michelle Rump vom Landesverband der Hebammen in NRW. „Wenn ein Baby etwa sechs Stunden am Stück durchschreit, ist der Stresspegel der Mütter und Väter die ganze Zeit oben. Währenddessen haben sie nicht die Möglichkeit, sich zu erholen.“ Viele schämten sich jedoch, mit ihrem Umfeld darüber zu sprechen. Michelle Rump: „Die Gefahr ist groß, dass gerade Mütter, die in den ersten Wochen meist beim Baby sind, sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und sich isolieren.“

Auch interessant

Lisa Köchling kennt das Gefühl. „Ich habe mich zu Hause isoliert, keine Freunde mehr getroffen. In den Supermarkt bin ich nur noch gegangen, wenn mein Partner mich begleitet hat. Ich konnte nicht duschen, mir nichts zu essen machen, an Haushalt war gar nicht zu denken. Stattdessen habe ich viel auf dem Boden gesessen und geweint.“ In ihrem Kopf die Frage: Wann hört das endlich auf?

Ich habe mich gefragt: „Bin ich eine schlechte Mutter?“

Heute, Finn ist mittlerweile 16 Monate alt, sitzt Lisa Köchling wieder auf dem Boden. Sie baut mit ihrem Sohn einen Turm aus Bauklötzen. Das Haus in Remscheid ist in Naturtönen eingerichtet, auf dem Teppich liegt Holzspielzeug. Die Umgebung soll für Finn so reizarm wie möglich sein. Auch heute schreit er noch, allerdings nur noch etwa eine Stunde am Tag. Im Kinderwagen sitzt er immer noch nicht gerne, und das Einschlafen fällt ihm schwer. Elf Monate habe es gedauert, Finn für eine halbe Stunde ins Bett zu bringen, erzählt Lisa Köchling. „Da konnten mein Partner und ich uns das erste Mal seit langem wieder in die Augen schauen.“ Mittlerweile schläft er nachts in seinem Bett, abwechselnd liegen Lisa Köchling und ihr Partner mit einer Matratze neben ihm und halten seine Hand.

Remscheid - High-Need-Baby (Schreikind)
Die Umgebung soll für Finn so reizarm wie möglich sein. Auch deshalb hat die Familie ihr Haus in Naturtönen eingerichtet, das Spielzeug ist meist aus Holz. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Bis dahin war es für die Familie ein langer Weg. Sie besuchten eine Schreiambulanz, machten ein Schlafcoaching mit, lasen Bücher und hörten Podcasts. Durch einen Berater einer sogenannten Elternschule lernte das Paar, das Schreien seines Sohnes zu akzeptieren. „Ich habe ihn fest gehalten und sein Schreien begleitet. Je ruhiger ich geatmet habe, desto schneller hat er aufgehört“, sagt Lisa Köchling. Sie kaufte sich sogar Geräusch unterdrückende Kopfhörer, über die sie für ein paar Minuten Entspannungsmusik hörte, um ruhiger mit ihrem schreienden Sohn umgehen zu können. In dieser Zeit hat sie sich viel mit anderen Müttern verglichen und sich immer wieder gefragt: „Bin ich eine schlechte Mutter? Was stimmt bloß nicht mit mir?“

High Need Baby: Genaue Ursache ist nicht erforscht

Eine genaue Ursache, warum einige Babys hochbedürftig sind, ist noch nicht erforscht. Hebamme Michelle Rump vermutet, dass hier viele Faktoren zusammenkommen können. „Die Babys haben Schwierigkeiten, sich ihrem Alter entsprechend selbst zu beruhigen“, sagt sie. Gängige Methoden wie Stillen, Tragen oder Schaukeln funktionierten hier oft nicht.

Auch interessant

Michelle Rump kritisiert, dass Mütter in den ersten Monaten oft keine kontinuierliche und verlässliche Betreuung erhielten. „Wir Hebammen sind zwar dafür ausgebildet, die Frauen in dieser Phase ihres Lebens zu betreuen. Allerdings geben die Rahmenbedingungen eine solche Eins-zu-eins-Betreuung oft nicht her.“ Durch die von Bund und Ländern verabschiedete Krankenhausreform mussten Geburtsstationen in NRW schließen. Vor allem im ländlichen Raum gebe es nun Versorgungsengpässe, sagt Michelle Rump. Hier müsse das Land dringend wieder eine flächendeckende Versorgung für die Familien schaffen. An die Kreißsäle könne man zudem gut Schreiambulanzen oder Wochenbettstationen für Eltern und Kinder mit hohen Bedürfnissen angliedern.

Remscheid - High-Need-Baby (Schreikind)
Auf ihrem Instagram-Kanal @lisajohannak gibt Lisa Köchling Einblicke in den Alltag mit ihrem Sohn. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die Zeit mit Finn hat Lisa Köchling verändert, sagt sie. Sie hat einen Instagram-Kanal gegründet, auf dem sie ihren Followern authentische Einblicke in ihren Alltag als Mutter zeigen möchte. „Es ist schön, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Dadurch fühlt man sich weniger allein.“ Von anderen Eltern erfährt sie dafür viel Dankbarkeit. Aber auch Anfeindungen. „Einmal wurde ich als Rabenmutter beschimpft und das mir das Sorgerecht entzogen werden sollte, weil mein Kind so viel schreit. Genau deshalb braucht es mehr Aufmerksamkeit für das Thema.“

+++ Wir bieten Ihnen auch bei WhatsApp regelmäßig Themen rund um den Familienalltag. Hier finden Sie uns bei WhatsApp +++