Duisburg. Seit 2024 gibt es das E-Rezept. Den rosa Zettel findet man trotzdem noch - millionenfach im Keller einer markanten Duisburger Immobilie

Erst ist da ein Surren, dann bläst einem die Lüftung warme Luft ins Gesicht und der süßlich-holzige Geruch von Papier ist plötzlich allgegenwärtig. Jörg Mose muss ein bisschen grinsen, als er die weiße Metalltür zu seinem Reich offen hält. Er weiß nur zu genau: Die meisten Leute, die sich das hier anschauen, sind erst einmal sprachlos. Und so lässt Mose den Vortritt in einen Ort, den man in Zeiten der Digitalisierung sicherlich nicht erwartet hätte.

Im zweiten Untergeschoss des markanten Tausendfensterhauses in Duisburg-Ruhrort lagert die Techniker Krankenkasse Hunderte Millionen alte Papierrezepte. Sie stammen aus München oder Kiel, aus Berlin oder Dortmund. Es ist ein Stück Patientengeschichte von bundesweit über elf Millionen Versicherten der mitgliederstärksten deutschen Krankenkasse, das hier zentral in Duisburger Kellerräumen archiviert wird. Und Jörg Mose ist Herr dieser alten Welt.

Gänge tapeziert mit sorgfältig aufgereihten Kisten und Kartons

Mose hält sich etwas abseits, damit der gut temperierte Keller für sich sprechen kann. Dutzende Schwerlastregale teilen den großen Raum in viele schmale Gänge, deren Wände geradezu tapeziert sind mit Kartons. Unzählige kleine braune und graue Kisten stehen da sorgfältig aufeinander. Es werden Hunderte sein, auch Tausende, wenn man von Gang zu Gang schlendert. Und dann ist noch kein Ende in Sicht: Es gibt noch fünf weitere dieser Räume im zweiten und ersten Untergeschoss, verbunden zu einem kleinen Labyrinth aus stets verschlossenen Metalltüren. Allein im zweiten Untergeschoss hat die Techniker etwa drei Viertel der Kellerfläche des Tausendfensterhauses angemietet, um hier Mitte 1994 ihr zentrales Abrechnungszentrum anzusiedeln.

Archiv von Rezepten der TK  im Tausendfensterhaus in Duisburg
Der Logistik-Fachmann Jörg Mose kümmert sich seit 2011 um das Rezepte-Archiv der Techniker. Die Kasse hat seit Mitte 1994 ihr zentrales Abrechnungszentrum in Duisburg. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Die Techniker hat ausgerechnet: Wenn man alle Kartons aneinanderstellt, käme man wohl auf die Länge von einem Kilometer. Würde man Rezept an Rezept legen, die Strecke wäre um ein Vielfaches länger. Denn in jedem einzelnen dieser etikettierten und mit laufenden Nummern versehenen Kisten stecken in genau festgelegter Reihenfolge mehrere Tausend Rezepte.

Rezepte-Archiv im digitalen Zeitalter? Die Kassen sind dazu verpflichtet

Warum nur digitalisiert man das nicht einfach? „Die Rezepte sind ja digitalisiert“, sagt Techniker-Sprecher Christian Elspas zwischen all den Kartons. „Wir Krankenkassen müssen aber trotzdem das Original aufbewahren.“ Das habe rechtliche Gründe: Wenn der Verdacht im Raum steht, dass etwa eine Verordnung fehlerhaft ausgestellt oder gar betrogen wurde, muss das Papierrezept geprüft werden. Geändert habe sich das erst 2024, weil mit der Einführung des elektronischen Rezepts in den allermeisten Fällen schlicht keine Papierkopie mehr vorliegt. Ältere Rezepte allerdings müssen weiterhin mindestens zwei volle Kalenderjahre aufbewahrt werden.

Und darum kümmert sich für die Techniker Jörg Mose, ein Mann, der so gar nicht aussieht wie jemand, der tagein tagaus ohne allzu viel Sonnenlicht und Frischluft auskommen muss. Der 60-Jährige ist schlank und sportlich, von einer zupackenden Art und voller freundlicher Geduld, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Er ist Fachkraft für Lagerlogistik und hat früher im Kühlhaus gearbeitet. Für die Techniker nimmt er seit 2011 aus allen Ecken des Landes Rezepte entgegen.

Archiv von Rezepten der TK  im Tausendfensterhaus in Duisburg
Regal an Regal, Kiste an Kiste: Die genaue Ordnung kennt Jörg Mose. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Verschickt werden sie von den Rechen-Zentren der Apotheken, die die Rezepte aus den Apotheken bekommen, sie scannen, sortieren und den jeweiligen Krankenkassen zum Aufbewahren zusenden. Mose pflegt sie in sein System ein, archiviert die Kisten, sucht angefragte Rezepte heraus und sammelt alte für ihre Vernichtung in zehn großen Metallcontainern zusammen.

Und all das zwei Etagen unter der Erde? „Ich arbeite gern hier, weil ich mir hier meine Arbeit selbst einteilen kann“, sagt der Logistik-Fachmann. Im Winter sei es dank der Lüftung angenehm warm, im Sommer schön kühl, und er könne ja auch rausgehen. „Passt alles“, sagt Mose, muss dann aber doch zugeben, dass die Begebenheiten besondere sind: Einmal sei der Strom ausgefallen und er habe sich im Stockdunklen vortasten müssen. Seitdem habe er immer eine Taschenlampe griffbereit. Oder das Handy.

Archiv von Rezepten der TK  im Tausendfensterhaus in Duisburg
Das über 100 Jahre alte „Tausendfensterhaus“ in Duisburg-Ruhrort beherbergt seit Mitte 1994 das zentrale Abrechnungszentrum der Techniker Krankenkasse. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Zum Leuchten, nicht zum Telefonieren wohlgemerkt. Handyempfang gebe es so tief unter dem dicken Mauerwerk des über 100-jährigen Gebäudes nicht. Deshalb wechselt Jörg Mose immer dann, wenn sein einziger direkter Kollege früher Feierabend macht, auch in das besser vernetzte obere Kellergeschoss. „Hier unten hört man nichts.“

Vor 2024 kamen 1100 Kisten im Monat, nun sind es nur noch 300

Die Digitalisierung und damit das E-Rezept sind aber auch hier zu spüren: Kamen vor 2024 im Monat über 1000 Rezeptkartons an, sind es heute nur noch um die 300. Papierrezepte gibt es immer noch. Beispielsweise Betäubungsmittel müssen darauf derzeit noch verschrieben werden.

Die ersten Regalmeter sind aber bereits leergeräumt - in wenigen Jahren, das weiß Mose, werden die Regale leer stehen. „Dann werde ich andere Aufgaben übernehmen“, sagt er. Und verrät dann noch: Ordentlich möge er es nicht nur auf der Arbeit. Zu Hause habe er auch die Deko-Kisten gut sortiert. „Ohne ein Pedant zu sein! Nur damit man weiß, wo was ist.“