Essen. Die gesetzliche Krankenversicherung leidet unter einem großen Finanzloch. Experten haben jetzt berechnet, was das für Versicherte heißt

  • In den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung fehlten im ersten Halbjahr 2024 rund 2,2 Milliarden Euro. Die Ausgaben für Klinikaufenthalte und Arzneimittel stiegen enorm.
  • Der sogenannte Schätzerkreis hat am Mittwoch Berechnungen vorgestellt, wie sich der Zusatzbeitrag der Kassen erhöhen müsste, um das Finanzloch abzumildern.
  • Krankenkassen in NRW sprechen von einem extremen Druck auf das System.

Eine tröstende Nachricht vorab: Mit höheren Krankenkassenbeiträgen noch in diesem Jahr ist in NRW nicht zu rechnen. Keine der 22 größeren Krankenkassen im Land erklärt auf Anfrage dieser Redaktion, dass sie ihren Zusatzbeitrag noch vor dem Jahreswechsel anheben will. Doch das war es dann auch schon mit den guten Nachrichten – ihre finanzielle Lage beschreiben die gesetzlichen Krankenversicherungen nämlich als extrem angespannt. Die Folgen für die Versicherten sind zum Jahreswechsel absehbar: Allgemein wird mit deutlich höheren Beiträgen gerechnet.

Die Ausgaben stiegen in nie dagewesener Höhe, heißt es von den Kassen aus NRW, das System stehe unter extremem Druck und Rücklagen schrumpften. Obendrauf kämen immer neue teure Gesetze des Bundes wie etwa die Krankenhausreform, kritisiert etwa die AOK Rheinland/Hamburg. „Die kostenintensive Gesetzgebung im Gesundheitswesen hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass fast alle gesetzlichen Krankenkassen ihre Zusatzbeiträge im Jahr 2025 werden anheben müssen“, heißt es da alarmierend.

Experten schätzen: Zusatzbeiträge müssten auf 2,5 Prozent steigen

Wie gravierend die Lage tatsächlich ist, zeigt sich jetzt: Experten des sogenannten Schätzerkreises haben am Mittwoch ihre Berechnungen vorgestellt, nach denen der durchschnittliche Zusatzbeitrag 2025 um 0,8 Punkte auf 2,5 Prozent angehoben werden müsste, um den enormen Finanzbedarf zu decken. Das teilte das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) mit. Derzeit liegt der Zusatzbeitrag im Durchschnitt bei 1,7 Prozent. In dem Schätzerkreis sitzen Fachleute des Bundesgesundheitsministeriums, des BAS und der Krankenkassen. Wie sehr der Beitragssatz für die Versicherten tatsächlich steigt, entscheidet jede Krankenkasse für sich.

Tatsächlich geben die Krankenkassen seit Jahren mehr aus als sie einnehmen. Im ersten Halbjahr 2024 lag das Defizit aller bundesweit 95 gesetzlichen Krankenkassen bei rekordverdächtigen 2,2 Milliarden Euro. Der Spitzenverband der Krankenkassen GKV hatte deshalb schon im Sommer vor steigenden Krankenkassenbeitragen zum Jahreswechsel gewarnt. Derzeit liegt der allgemeine Beitragssatz bei 14,6 Prozent – hinzukommt der Zusatzbeitrag. Unter den 22 größeren Kassen in NRW variiert er aktuell zwischen 0,98 und 3,28 Prozent. Die Beiträge teilen sich Arbeitnehmende und Arbeitgeber.

Größere Krankenkassen in NRWaktueller ZusatzbeitragGesamtbeitragssatz 2024
AOK Rheinland Hamburg2,20 %16,80 %
AOK Nordwest1,89 %16,49 %
Barmer2,19 %16,79 %
Bergische Krankenkasse1,99 %16,59 %
BIG Direkt Gesund1,65 %16,25 %
BKK 243,25 % (unterjährig erhöht)17,85 %
BKK Diakonie2,69 % (unterjährig erhöht)17,29 %
BKK exklusiv1,99 %16,59 %
BKK Provita1,49 %16,09 %
BKK Public1,20 %15,80 %
Continentale BKK2,20 % (unterjährig erhöht)16,80 %
DAK1,70 %16,30 %
Energie BKK1,59 %16,19 %
Hanseatische (HEK)1,30 %15,90 %
hkk0,98 %15,58 %
IKK classic2,19 % (unterjährig erhöht)16,79 %
IKK gesund plus2,39 % (unterjährig erhöht)16,99 %
KKH3,28 % (unterjährig erhöht)17,88 %
Knappschaft2,70 % (unterjährig erhöht)17,30 %
Novitas BKK1,70 %16,30 %
Techniker (TK)1,20 %15,80 %
Viactiv1,99 % (unterjährig erhöht)16,59 %
Quelle: eigene Recherche

Zum Jahreswechsel wird mit einem Plus von 0,6 Beitragssatzpunkten gerechnet, um mehr Geld ins Kassensystem zu spülen. Die Haushaltsplanungen der Krankenkassen enden im Dezember. Zu konkreten Prognosen über den künftigen Zusatzbeitragssatz lässt sich kaum eine Versicherung hinreißen. Die BKK ProVita, bei der rund 125.000 Menschen im gesamten Bundesgebiet versichert sind, gesteht aber offen zu, mit einer Anpassung zu rechnen. Die Höhe werde derzeit noch geprüft. 

Kostentreiber: Höhere Ausgaben für Klinikaufenthalte und Arzneimittel

Weil die Finanznot schon jetzt groß ist, haben in NRW acht größere Kassen sogar im laufenden Jahr ihren Zusatzbeitrag erhöht – entgegen bisheriger Praxis. Die IKK Classic gehörte dazu. Sie hat ihren Zusatzbeitrag im August um 0,49 Prozentpunkte auf 2,19 Prozent erhöht. Die Kasse rechnet mit Blick auf die wesentlichen Treiber vor: Für die stationäre Behandlung in Kliniken sind die Ausgaben bundesweit im ersten Halbjahr 2024 gegenüber dem Vorjahr um 7,9 Prozent und rund 3,6 Milliarden Euro gestiegen. Beim zweitgrößten Kostenblock, den Arzneimitteln, ging es um zehn Prozent hoch. „In diesem Jahr hat sich abermals gezeigt, dass die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen in der GKV immer weiter aufgeht“, so eine Sprecherin.

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Kritik gibt es auch hier daran, dass der Bund die Kassen an den Kosten der Klinikreform beteiligen will. Beitragszahlende würden „ungerechtfertigt in die finanzielle Verantwortung genommen“, so die IKK. Investitionskosten von Kliniken sind Ländersache.

Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der UDE

„Wir leben aktuell von der Hand in den Mund und wissen nicht mal, ob die Hand den Mund erreicht.“

Jürgen Wasem

Die Techniker ergänzt, dass anders als geplant politische Gegenmaßnahmen bisher ausgeblieben seien, um die steigenden Ausgaben abzumildern. Ein Sprecher nennt exemplarisch, dass die GKV derzeit nur etwa ein Drittel der Kosten für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger im Staat erstattet. 

Leistungen kürzen als Alternative? Gesundheitsökonom

Dass die Politik null Initiative zur Kostendeckung zeige, sei absolut neu an der aktuellen Situation, urteilt auch der renommierte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Er arbeitet als Schlichter im Schätzerkreis und hatte unlängst Beitragssatzanstiege wie seit 20 Jahren nicht mehr vorhergesagt. Gegenüber dieser Redaktion verweist Wasem auf Wirtschaftsexperten, die davor warnten, Unternehmen und Versicherte einseitig zu belasten. Eine Alternative kann demnach sein, Ausgaben zu verringern.

So sieht Wasem in der Notdienstreform des Bundes das Potenzial, die Zahl der Einweisungen in Kliniken zu begrenzen und damit Kosten zu sparen. Grundsätzlich könnten auch mit der Krankenhausreform Kosten reduziert werden. „Aber beides geht nicht so schnell“, so der Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen. „Um Kosten schneller abmildern zu können, könnte man zeitweise die Budgetzuwächse bei den Praxen und Apotheken oder Leistungen für die Versicherten begrenzen“ - sprich: Die Kassen würden zumindest übergangsweise weniger Leistungen übernehmen. „Wir haben den Leistungskatalog in den vergangenen 20 Jahren immer weiter ausgebaut“, sagt der Gesundheitsökonom. „Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir das so weiterfinanzieren wollen.“

Wasem kritisiert zudem, dass der Bund den Kassen zu geringe Mindestreserven ermögliche. „Ihnen stehen derzeit finanzielle Reserven für weniger als 14 Tage ihres normalen Geschäftes zur Verfügung. Das ist zu knapp bemessen“, sagt er. Es müssten Strukturen vorgehalten werden, die halbwegs für Krisen finanziell gefestigt sind. „Wir leben aktuell von der Hand in den Mund und wissen nicht mal, ob die Hand den Mund erreicht.“

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