Essen/Poltava. Frontkämpfer bringen Hepatitis mit heim. Doch was hat Gürtelrose mit Luftangriffen zu tun? Essener Forscher starten Studie in der Ukraine.
Krieg verursacht Stress. Viren mögen Stress. Denn Stress schwächt die Immunabwehr. Bestimmte chronische Viren, etwa Herpes-Viren, die in vielen Menschen „schlummern“, ohne dass sie davon wissen, werden so „reaktiviert“. Was harmloser klingt, als es ist. Nicht nur, weil Kriegsflüchtlinge gefährliche Virusinfektionen unwissend in die Länder bringen könnten, die sie aufnehmen. Ein deutsch-ukrainisches Forschungsprojekt will helfen.
Schnelltests funktionieren „kaum besser als Würfeln“
Es ist nicht die erste Zusammenarbeit der Essener Uniklinik und der Poltava State Medical University (PSMU) in der Ukraine. Schon 2023 startete ein gemeinsames Nothilfe-Projekt, das gerade endete. Dabei ging es um den Aufbau einer modernen Labordiagnostik für Viren und Bakterien – Voraussetzung für die effektive Behandlung von Infektionen, die für Kriegszeiten so typisch sind. Ärzte, Ärztinnen und Labor-Kräfte aus der Ukraine wurden dafür in den Instituten für Virologie und Medizinische Mikrobiologie der Essener Uniklinik an Geräten geschult, die eigens für die Klinik in Poltava angeschafft und später dorthin gebracht wurden – Geräte, die automatisiert PCR-Tests machen, Antikörper oder Proteine nachweisen können. „Bis dato waren in Poltava nur Schnelltests möglich“, erinnert sich Prof. Ulf Dittmer, der Instituts-Direktor. Und die funktionierten bei vielen Infektionen „kaum besser als Würfeln“.
„20 Prozent (Hepatitis-)Infizierte – das ist eine gigantische Zahl. Das kennt man nicht einmal aus amerikanischen Gefängnissen.“ “
Heute arbeiten die Labore der PSMU nach europäischem Standard. Erste erschreckende Erkenntnis: Jeder fünfte ukrainische Soldat, der den Einsatz an der Front überlebt, bringt eine Hepatitis-Virus-Infektion mit heim. Unter den Betroffenen: sehr viele Sanitäter. Bei der Erstversorgung Verletzter kommen sie mit großen Mengen Blut in Kontakt... . „20 Prozent Infizierte – das ist eine gigantische Zahl“, sagt Dittmer, „das kennt man nicht einmal aus amerikanischen Gefängnissen.“
Herpes-Viren schlummern in fast jedem Menschen
In der aktuellen Studie „Klinisch relevante Virusreaktivierungen durch kriegsbedingten physischen und psychischen Stress“ geht es um andere Viren: Herpes-Simplex-, Varizella-Zoster- sowie Cytomegalo-Viren. Alle drei können sehr ernste Erkrankungen verursachen, CMV-Infektionen sogar akut lebensbedrohlich sein. Und Varizella-Zoster-Viren sind Auslöser der gefürchteten Gürtelrose, einer äußerst schmerzhaften, langwierigen Erkrankung, die nicht selten zu Arbeitsunfähigkeit führt, wie Dittmer erläutert. Heile die Gürtelrose ab, bleibe oft ein Phantomschmerz – bei älteren Menschen sei Gürtelrose wegen der anhaltenden Schmerzen tatsächlich häufige Ursache für Suizid.
Förderung durch die GIZ
Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit unterstützte bereits das deutsch-ukrainische Diagnostik-Projekt im Rahmen ihres Klinikpartnerschaften-Programms mit 914.000 Euro. Weitere 320.000 Euro der GIZ fließen nun in die aktuelle, darauf aufbauende Studie, die ebenfalls auf zwei Jahre angelegt ist.
Wenigstens 200 Probanden – 100 Frontkämpfer und 100 Geflüchtete – sollen untersucht werden. Schon jetzt, so Dittmer, deute sich an, dass es deutlich mehr werden könnten. Allein in den ersten Tagen erklärten sich 20 Soldaten bereit, Blut- und Speichelproben abzugeben.
„Bewunderswert“, sagt der Essener Virologe, „dass Menschen in einer solchen Situation weiterhin offen sind für wissenschaftliche Forschung.“ Menschen, die seit mehr als 1000 Tagen im Krieg leben, die jede Nacht die Sirenen heulen hören. Bei den Besuchen der Kollegen aus Poltava in Essen sehe er, wie anstrengend das sei. „Sie sind inzwischen psychisch extrem belastet“.
Dass schwerer Stress die Immunabwehr versagen lässt, ist bekannt. „Bei Astronauten ist das ein großes Problem“, weiß Dittmer. Nicht bekannt ist bislang, welche Formen von kriegsbedingtem Stress für die Viren-Reaktivierung wirklich relevant sind. „Wir sind uns ziemlich sicher, dass das Problem die Soldaten an der Front betrifft und wir vermuten, dass es auch die vertriebene Zivilbevölkerung angeht“, sagt der Essener Virologe. Poltava sei als Standort für die Studie darum ideal: Die 300.000-Einwohner Stadt liegt 350 Kilometer südöstlich von Kiew; inzwischen gebe es zwar in fast jeder Nacht Fliegeralarm und im September zählte man hier bei einem russischen Raketenangriff hunderte Tote und Verletzte. Und doch sei Poltava bisher „sicherer als andere Orte“, sagt Dittmer. Viele verwundete Frontkämpfer landeten darum hier, genau wie Flüchtlinge aus den weiter östlich gelegenen, zerstörten Teilen des Landes. Beide, Soldaten wie Geflüchtete, sollen für die Studie gewonnen werden.
Haarproben zur Messung des Stresslevels? Die Köpfe der Soldaten sind kahl
Seit Anfang Dezember sammeln die Forscher vor Ort bereits Blut- und Speichelproben; mittels PCR-Tests stellen sie fest, ob eine Virus-Reaktivierung vorliegt. Parallel dazu, erläutert Dittmer, wird das Stresslevel der Probanden bestimmt, mittels Befragungen und weiterer Laboranalysen. „Über Haarproben hätte sich das am besten machen lassen“, sagt er, „aber die ukrainischen Soldaten sind fast alle kahl. Sie rasieren sich die Köpfe, aus Hygienegründen.“ Doch auch im Blut lässt sich Stress nachweisen. Proben werden dazu an die Essener Uniklinik geschickt und hier untersucht. Noch können das die Ukrainer nicht selbst, aber sie werden auch für diese neue Aufgabe im Revier geschult. Der Aufbau weiterer medizinischer und wissenschaftlicher Kompetenz in der Ukraine ist eines der erklärten Studienziele, Dittmer hält es für „extrem wichtig für die Zukunft des Landes nach dem Krieg“.
Die Forscher erhoffen sich vor allem aber neue Erkenntnisse zu den immunologischen Langzeitfolgen kriegsbedingten Stresses. Das Problem werde bisher vernachlässigt, erklärt Essens Chef-Virologe. Denn Verletzungen oder Verstümmelungen seien sichtbar, Virus-Infektionen zunächst nicht, „doch auch Viren können töten.“
Gesucht wird nur nach Infektionen, die auch therapiert werden können
Gezielt wird im Übrigen nur nach Virus-Infektionen gesucht, für die Therapien in der Ukraine auch verfügbar sind. Gegen Gürtelrose etwa gibt es eine Impfung. In Deutschland wird sie Älteren empfohlen. Womöglich könnte sie die ukrainischen Soldaten schützen, wenn sie sie erhalten, bevor sie an die Front geschickt werden.
Ob die Studienergebnisse auf den Alltag in Deutschland übertragbar seien? „Nein“, sagt der Virologe. „Alltagsstress reicht häufig nicht aus, um Viren zu reaktivieren. Aber es gibt genug, viel zu viele kriegerische Konflikte, wo das Wissen helfen könnte.“ Und natürlich: Könnte man Flüchtlinge aus Kriegsgebieten demnächst vielleicht auch hier gezielter auf bestimmte Virus-Infektionen untersuchen.