Essen. Straftaten gegen Frauen nehmen zu. Eine Expertin erklärt, wie Gewaltschutz funktionieren kann und warum wir am Männerbild rütteln sollten.
Die Zahlen des kürzlich veröffentlichen Lagebilds zu Gewalt gegen Frauen sind erschreckend. Demnach gab es im vergangenen Jahr beinahe jeden Tag einen Femizid, auch gegen Frauen gerichtete Straftaten wie sexuelle Übergriffe, digitale und häusliche Gewalt kamen 2023 häufiger vor als noch im Vorjahr.
Anlässlich des internationalen Aktionstags gegen Gewalt an Frauen hat unsere Redaktion mit Heike Mauer gesprochen. Die Politikwissenschaftlerin forscht an der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen.
2022 veröffentlichte sie zusammen Lisa Mense und Jeremia Herrmann den Gender-Report „Geschlechter(un)gerechtigkeit an nordrhein-westfälischen Hochschulen“. Demnach leiden Frauen, inter, trans und nichtbinäre Personen am häufigsten unter geschlechterbezogener Diskriminierung. In einem Konferenzraum im 8. Stock der Weststadttürme haben wir Mauer zu ihrer Forschung, der Gleichberechtigung von Frauen und dem vorherrschenden Männerbild befragt.
Laut Artikel 3, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Wie steht es 2024 um die Gleichberechtigung von Frauen?
Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 sind nicht alle geschlechterbezogenen Diskriminierungen verschwunden. Erst in den 1970er-Jahren durften Ehefrauen unabhängig vom Ehemann eine Arbeit aufnehmen. Vergewaltigung in der Ehe war bis 1997 kein Straftatbestand. Es sind bis heute Politiker aktiv, am prominentesten sicherlich Friedrich Merz, die diese Verschärfung damals abgelehnt haben.
Andere Ungleichheiten bestehen weiterhin fort. Geschlechterforschung zeigt, dass das Ehegattensplitting Frauen benachteiligt. Es entsteht ein wirtschaftliches Ungleichgewicht, wenn das Steuersystem Menschen, die mehr verdienen – in der Regel sind das Männer – animiert, viel zu arbeiten, während die andere Person wenig bis gar nichts verdient.
Sind Frauen in Deutschland also gar nicht gleichberechtigt?
Das sind alles Bausteine, die dazu führen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der faktisch nicht alle Geschlechter Zugang zu einem gleichberechtigten Leben haben. Geschlechterbezogene Gewalt – das zeigen diverse Studien und nicht zuletzt auch das Lagebild des BKA – ist tief in der Gesellschaft verankert und nimmt massive Ausmaße an. Soziale Sicherheit, Equal Pay und ein faires Steuersystem sind wichtige Stellschrauben für Gewaltprävention. Denn die finanzielle Abhängigkeit macht es schwerer für Frauen, sich aus gewaltvollen Beziehungen zu befreien.
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Sie haben über 5000 Angestellte an Hochschulen in NRW zu sexualisierter Gewalt und Diskriminierung befragt. Was hat Ihre Forschung ergeben?
Ganz viele Beschäftigte haben uns über Ungleichbehandlungen, aber auch von sexueller Belästigung und Gewalt berichtet. Sexismus ist mitunter alltäglich. So berichtete uns etwa eine Wissenschaftlerin, sie sei nach einem Konferenzvortrag für ihren Lippenstift gelobt worden, ihr männlicher Kollege für die exzellente wissenschaftliche Arbeit. So werden Frauen auf einen bestimmten Platz verwiesen und auf ihr Geschlecht reduziert. Bisweilen beschreiben die Wissenschaftlerinnen eine feindliche Arbeitskultur und melden zurück, dass sie die Vorfälle auch aus Angst vor Nachteilen nicht melden.
Wie können wir als Gesellschaft eine Kultur schaffen, die es Betroffenen und Mitwissenden einfacher macht, über Diskriminierung und Übergriffe zu sprechen?
Bei sexualisierter Diskriminierung und Gewalt steht häufig das Opfer im Fokus: „Hätte sich die Betroffene anders verhalten sollen? Konnte sie tatsächlich nichts dafür?“ Der Blick auf die Täter bleibt oft verstellt. Wichtig wäre jedoch, die Frage zu stellen, warum Männer so häufig übergriffig werden und warum wir als Gesellschaft dies noch so oft achselzuckend hinnehmen.
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Dazu gehört auch, dominante Vorstellungen von Männlichkeit zu hinterfragen. Geschlechterbezogene Gewalt drückt eine Anspruchshaltung von Männern aus – auf Frauen, ihre Körper, ihre unbezahlte Arbeit: Männer denken, es sei gesellschaftlich gedeckt, wenn sie ihrer Kollegin an den Hintern fassen, ihre Frau kontrollieren oder gar schlagen, weil diese sie etwa auffordert, mehr Sorgearbeit zu übernehmen.
Wie kommen wir weg von der Anspruchshaltung gegenüber Frauen?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Letztlich sollten wir schon Kindern vermitteln, dass sie nicht deswegen viel oder wenig wert sind, weil sie ein bestimmtes Geschlecht haben und mit diesem bestimmte Eigenschaften verbunden werden.
Ganz konkret sollten sich demokratische Parteien stärker dem Gewaltschutz widmen, etwa durch die Verabschiedung eines Gewaltschutzgesetzes, das aktuell zu scheitern droht. Auch die Istanbul-Konvention ist in Deutschland bislang nur sehr zögerlich umgesetzt worden. Es fehlt an vielen Stellen der politische Wille, jenseits von Repressionen oder Strafrechtsverschärfungen in Gewaltprävention zu investieren.
Das hat man relativ gut an den Reaktionen auf die Übergriffe in Köln in der Silvesternacht 2015 gesehen. Lang diskutierte Strafrechtsverschärfungen, ergänzt um eine ausländerrechtliche Komponente, wurden zügig umgesetzt. Die populistische Law-and-Order-Geschichte geht ganz schnell, aber wirklich Geld in die Hand genommen, um Plätze in Frauenhäusern oder bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, wurde nicht.
Sie sprechen die Silvesternacht in Köln an. Häufig ist der Aufschrei gegen geschlechterbezogene Gewalt besonders groß, wenn die Tatverdächtigen Einwanderer sind. Was macht die Erzählung vom eingewanderten Sexismus mit den Bemühungen gegen geschlechterbezogene Gewalt?
Geschlechterbezogene Gewalt existiert in allen gesellschaftlichen Schichten, unabhängig von Herkunft, Bildungshintergrund und wirtschaftlicher Situation. Man muss ganz klar sagen, dass mit diesem Mythos Stimmung gemacht wird, um migrationsfeindliche und rassistische Politiken durchzusetzen.
Der Tenor solcher Politik lautet: Wenn wir nur alle rausschmeißen könnten, wäre alles in Ordnung. Oftmals sind das die gleichen Parteien, die das Abtreibungsrecht einschränken oder den Schutz vor geschlechterbezogener Gewalt abbauen wollen.
Es geht also gar nicht um die Sicherheit von Frauen?
Nein. Bei diesen populistischen Politiken steht nicht die Sicherheit der Menschen im Fokus. Geschlechterbezogene Gewalt wird dabei letztlich instrumentalisiert. Aber den Gewaltschutz verbessern solche Parteien nicht.