Fünf Menschen erzählen, was die Silvesternacht mit ihnen gemacht hat. Besonders Gewaltopfer Miriam fällt der Rückblick schwer.

Die Übergriffe der Silvesternacht 2015 haben das Land verändert. Rund 1200 Anzeigen sind nach dem schockierenden Gewaltexzess am Kölner Hauptbahnhof eingegangen. Fast ein Jahr nach den Ereignissen schildern fünf Menschen, was sie nach den Geschehnissen der Silvesternacht bewegt. Der Rückblick fällt nicht leicht, besonders Gewaltopfer Miriam L. hat mit den Folgen zu kämpfen.

"Es fällt mir noch immer schwer, das zu begreifen, diese Tumulte, diese massenhaften entwürdigenden Vorfälle. Und genauso lässt mich die Frage nicht los, warum die Polizei nicht geholfen hat. Ein schlimmes Versagen." Die 19-Jährige Miriam ist eines von hunderten Mädchen, die in der Silvesternacht von Männern angegriffen wurde. Sie und ihre Freundin waren nicht am Dom, als es geschah. Die Mädchen wurden zwei U-Bahn-Stationen weiter, in Köln-Kalk, angegriffen. "Zwei Männer haben uns von hinten gepackt, am ganzen Körper angefasst. Sie haben uns zu Boden geworfen. Einer hat mich an den Haaren gezogen und auf den Kopf geschlagen." Die Details weiß Miriam noch wie damals: Ihre Freundin blutete aus der Nase, als sich die Männer auf sie stemmten. Die Täter sprachen arabisch, erinnert sie sich. Sie schrie, bis sich die Männer schließlich abwandten.

Miriam fühlt sich allein gelassen

Erst einen Tag danach nahm die Abiturientin den körperlichen Schmerz war. Die Nachrichten über die sexuellen Übergriffe am Hauptbahnhof wühlten nicht nur sie, sondern die halbe Nation auf. Straftaten begangen von überwiegend nordafrikanischen und arabischstämmigen Männern, darunter viele Flüchtlinge. Die Polizei war überfordert und unterbesetzt. Miriam fühlt sich von der Polizei im Stich gelassen: "Schon als wir Anzeige erstattet haben, mussten wir uns auf der Wache anhören, wir sollten uns nicht so anstellen." Das Verfahren wurde eingestellt.

"Oft kommen mir Männer entgegen, und ich denke, der eine könnte es gewesen sein. Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde verfolgt. Vielleicht bin ich schon paranoid." Seit den Geschehnissen ist sie nicht mehr im Dunkeln alleine aus dem Haus gegangen und hat immer Pfefferspray dabei. "Ich bin früher nie ängstlich gewesen. Aber wenn man eine solche Gewalt erlebt hat und so eine Hilflosigkeit und Ohnmacht - das verändert einen." Die Polizei kann ihr Vertrauen nur zurück gewinnen, wenn sie zukünftig mehr Präsenz und stärkere Kontrollen durchführt.

Polizeipräsident Mathies steht vor der wichtigsten Nacht

Jürgen Mathies ist Kölner Polizeipräsident. Der Grund: Die Silvesternacht. Denn Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) hatte seinen Vorgänger kurz nach den Geschehnissen abberufen. "Es ist eine sehr große Herausforderung. Ich kann nicht versprechen, dass hier nie wieder etwas Schlimmes passiert. Ich kann keine Garantie für hundert Prozent Sicherheit geben. Aber ich kann versprechen, keine Planungsfehler zu machen", sagt Mathies. Als er den Job annahm, waren die entsetzlichen Ereignisse erst wenige Tage alt. Ihn schmerzt es, dass die Polizei den Frauen nicht helfen konnte. Sein Antrieb: Nie wieder solche Szenen.

Wie lautet seine Antwort? Die Beamten sollen stärker präsent sein, perfekt vorbereitet. "Damit wir auch fähig sind, besonders belastende Situationen zu bewältigen." Zum Konzept gehört: früher einschreiten, Grenzen klar aufzeigen, mehr kontrollieren. Verstärkung hat seine Polizei aber nicht bekommen. Mathies hat umgebaut. Eine weitere Folge der Silvesternacht: Es gab Zulauf bei Bürgerwehren, die polterten, deutsche Frauen nun auf eigene Faust vor Fremden zu schützen. "Sie wollen vermeintlich Gutes, tatsächlich aber anderen ihre rechte Gesinnung und Hassparolen aufzwängen." Da habe man Druck gemacht, sagt Mathies. "Von denen hören wir nichts mehr." Auch eine Maßnahme, um wieder mehr Sicherheitsgefühl zu schaffen: Verstärkte Razzien gegen "Nafris", gegen die Szene der nordafrikanischen Intensivtäter. Ihre Straßenkriminalität ist stark ins Visier gerückt.

Doch wie sieht der Plan für die Silvesternacht dieses Jahr aus? Silvester 2016 wird es eine Mischung aus Absperrungen, Kontrollen und großem Aufgebot von Sicherheitskräften geben. Zwischen Bahnhof und Dom soll es so sicher wie sonst fast nirgends in Deutschland zugehen. "Das ist wie ein Blick in die Kugel. Ich kann nur sagen: Die Polizei ist vorbereitet. Auf alles", sagt Mathies.

Einige der Täter kamen zu Anna in die Notaufnahme

Silvester ist ein einschneidendes Erlebnis für Anna Thurau. Sie ist Chirurgin geworden, weil sie ein gewisses Helfersyndrom hat. Einige der bis zu 1500 Männer, die auf dem Bahnhofsplatz randalierten, landeten noch in derselben Nacht mit blutenden Wunden bei ihr. Die 28-Jährige war im Nachtdienst eingeteilt, in einem Krankenhaus, nicht weit weg vom Hauptbahnhof. Wen sie da vor sich hatte, wusste Anna erst nicht. "Richtig los ging es um ein Uhr, da kamen Männer teilweise an Tragen gefesselt und in Begleitung von Hundertschaft-Polizisten in unsere Ambulanz. Sie waren wahnsinnig aggressiv, haben getreten, gespuckt."

Die Patienten hatten stumpfe Verletzungen am Kopf, offene Schnittwunden an Händen, Fingern und Beinen. Manche seien betrunken umgefallen, schildert die Chirurgin. "Die meisten Verletzungen kamen von Gewaltanwendung. Die müssen sich Gegenstände auf den Kopf geschlagen haben. Es hörte einfach nicht auf in dieser Nacht. Wir hatten zeitweise eine Schlange von Rettungswagen vor der Tür." Es war Doppelbesetzung eingeplant. Viele der Männer sprachen kein Deutsch und konnten sich nicht ausweisen. Was Anna bis heute nicht versteht, ist die Aggression gegen ihre Person. "Allah vergib mir. Ich werde mich von dieser Frau nicht anfassen lassen", schrie ein blutender Patient.

"Köln wird sich von den Vorfällen nicht beirren lassen"

Anna arbeitete die ganze Nacht durch, erst auf dem Heimweg überkamen sie Tränen. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, als sie später einen TV-Bericht über die sexuellen Übergriffe sah. Ihr Freund formulierte es als Erster: "Anna, das ist krass, du hast die Leute zusammengeflickt, die anderen in der Nacht Schlimmes zugefügt haben." Die Chirurgin möchte nicht Richterin spielen, sondern sucht, wie viele, Antworten. Sie mahnt: "Es gibt in jeder Rasse, jeder Nation oder Religion auch schwarze Schafe. Ob Nordafrikaner, Syrer, Deutsche, Polen oder sonst wer - man darf nie pauschalisieren und eine ganze Menschengruppe verurteilen." Anna ist sicher: "Köln wird sich von den Vorfällen nicht beirren lassen."

Der Deutsch-Marokkaner Abdelkarim könnte äußerlich als einer der Täter der Silvesternacht durchgehen. Der Comedian weiß, wie es ist, wenn man unter Generalverdacht gerät. Der 35-Jährige - seine Eltern kamen aus Marokko nach Bielefeld - schlägt ernste Töne an. "Silvester, das war definitiv eine Zäsur. Sozusagen unser Nine Eleven. Wir stehen vor einer Bewährungsprobe." Nazis, die fremden- und islamfeindliche Pegida-Bewegung, die AfD - alle missbrauchten Silvester für ihre Propaganda, meint der Muslim. "Werden sich unsere Werte auch in diesen schwierigen Zeiten bewähren, oder gewinnen die Rattenfänger mit ihren Rassentheorien?", sagt er. Der Comedian gehört zu den Erstunterzeichnern eines Aufrufs gegen die AfD und für ein tolerantes Land. "Rechte Parasiten behaupten jetzt, ihre schrecklichen Befürchtungen gegenüber DEN Fremden und DEN Flüchtlingen seien belegt." Und da höre der Spaß auf. "Sippenhaft gibt es nicht."

Die Politiker der AfD lassen den Zwei-Meter-Mann schaudern. "Die sind genauso schlimm wie die Rechtsradikalen. Die Rechtsradikalen zünden das Flüchtlingsheim an. Aber die AfD macht das Feuer klar." Gute Zeiten für Vorurteile und Ressentiments. Sein Umfeld spüre das und er selbst auch. Provokativ nennt er sich "einen Deutschen gefangen im Körper eines Grapschers".

Comedian Abdelkarim zeigt sich optimistisch

Für den Duisburger steht fest, dass die Straftaten vorher nicht verabredet waren: "Das war nicht geplant. Silvester sind immer viele Nordafrikaner am Bahnhof. Sie kommen ja nirgendwo rein. Keiner will sich mit denen einlassen und feiern gehen." Und bevor im Flüchtlingsheim die Stimmung kippt, "gehen die eben zum Hauptbahnhof, um auch mal was vom behördenfreien Deutschland mitzukriegen". Es seien diesmal einfach zu viele gewesen. Dann der Alkohol, die überforderte Polizei, die Gruppendynamik. Relativieren will er alleridngs nichts. "Einige haben extrem eklige Sachen gemacht, die durch nichts zu rechtfertigen sind und für die sie hoffentlich bestraft werden." Abdelkarim betont, die Übergriffe seien "eindeutig un-islamisch, aber sie werden von den Populisten mit dem Islam begründet". Für ihn seien Muslime noch mehr zum Außenseiter geworden. Trotzdem zeigt er sich optimistisch, und hofft, dass die Gesellschaft trotz Hetze wieder zusammenfindet.

RTL-Chefmoderator Peter Kloeppel sieht Deutschlands Image angekratzt. "Auf Köln, auf Deutschland, lag erst mal ein dunkler Fleck, keine Frage", sagt er. Das Versagen des Staates hatte Medien auch in den USA und Großbritannien spekulieren lassen, ob Kanzlerin Angela Merkel ihren Flüchtlingskurs aufgeben muss. Oder gleich ihre gesamte politische Macht. Im Ausland sei die Betrachtung inzwischen wieder "etwas abgewogener" geworden. Die Politik sei aufgewacht und habe reagiert - mit einem verschärften Asylrecht und neuem Sexualstrafrecht. Man registriere auch im Ausland die Strafverfolgung und den Umgang mit Flüchtlingen hierzulande ganz genau, beobachtet Kloeppel.

Peter Kloeppel sorgt sich um veränderten Umgangston

Fast eine Million Ankömmlinge 2015: Das habe Staat und Bevölkerung überfordert. Die Defizite der Integration seien seit Silvester nicht mehr zu übersehen, meint der Nachrichtenmann. Er wirbt dafür, die Ängste der Menschen ernster zu nehmen. "Wer die Sorge äußert, dass wir es nicht schaffen, wer kritische Fragen zur Integration der Flüchtlinge stellt, muss immer den Gegenangriff fürchten, er sitze doch in der rechten Ecke." Es sei Aufgabe der Medien zu zeigen, wessen Geistes Kind diejenigen sind, die diese Ängste für radikale Zwecke missbrauchen.

Der 58-Jährige sorgt sich wegen eines veränderten Umgangstons: Im Netz erschrecken Hass-Kommentare und rassistische Sprüche. Sieht der mehrfach ausgezeichnete Journalist mehr Fremdenfeindlichkeit seit den Ereignissen in der Silvesternacht? "In jeder Gesellschaft gibt es einen Prozentsatz von Leuten, die sich von Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund bedroht sehen. Das müssen wir leider akzeptieren." Die Medien sollten diese Gruppe aber nicht größer machen, als sie ist.

Und was haben sie am 31. Dezember 2016 geplant? Abdelkarim will in Bielefeld feiern - oder auch nach Köln fahren. Jürgen Mathies verbringt die Nacht am Dom und anderen Hotspots. Anna will mit ihren Liebsten zu Hause feiern. Peter Kloeppel will am TV die Live-Berichte der RTL-Reporter verfolgen. Und Miriam? Sie versteckt sich nicht und geht mit Freunden aus. Ihr Pfefferspray wird sie dabei haben und ihre Eltern werden sie abholen. (dpa)