Marl/Recklinghausen. Bei der Vestischen Straßenbahn arbeitet der Chef jetzt selbst mal als Busfahrer. Wie es dazu kam und welche Probleme ihm nun begegnen.
Haltestelle Marl-Mitte, kurz vor 13 Uhr. Martin Schmidt erscheint ein paar Minuten vor Schichtbeginn. Sicher ist sicher. Heute trägt er ausnahmsweise mal nicht Anzug, sondern weißes Hemd zu schwarzer Hose. Standard-Kluft für die rund 850 Fahrer und Fahrerinnen der Vestischen Straßenbahnen GmbH. Für eine Woche ist Schmidt einer von ihnen. Eigentlich aber ist er ihr Chef, ist seit 2002 Geschäftsführer des Unternehmens, das mit seinen 270 Bussen jährlich knapp 60 Millionen Fahrgäste befördert.
Bus ist über 18 Meter lang und 21 Tonnen schwer
Der SB 25 kommt an. Fahrer Andreas Joswig und Schmidt tauschen die Plätze. „Alles klar?“ „Alles klar!“ Schmidt stellt sich den Sitz passend ein, checkt die Instrumente. „Wie lange stehen wir hier noch?“, fragt er Kai Schürholz. Der Verkehrsplaner der Vestischen und intimer Kenner aller Fahrpläne muss nicht lange überlegen. „Drei Minuten“, sagt der 30-Jährige, der seinen Vorgesetzten eine Woche bei dessen Fahrten begleitet. Weil es kaum jemanden gibt, der die Strecken und Haltestellen besser kennt – auch weil er regelmäßig selbst ein paar Schichten hinter dem Steuer übernimmt.
Ein Blick in den Rückspiegel zeigt: Alle Passagiere sitzen oder halten sich fest. Los geht es. „An der Kreuzung nach rechts“, sagt Schürholz. Gefühlvoll tritt Schmidt aufs Gas. Der Verkehrsplaner nickt. „Das macht er gut.“ Vor allem, wenn man bedenkt, was der Geschäftsführer da gerade bewegt. Der Schnellbus 25 ist als Gelenkbus unterwegs. Über 18 Meter lang, 21 Tonnen Leergewicht, Platz für rund 100 Fahrgäste. Viel mehr geht nicht im ÖPNV. Den kann nicht jeder fahren, den darf auch nicht jeder fahren.
Schmidt kann und darf, er soll sogar. Die Idee ist im vergangenen Jahr auf einer Betriebsratsklausur entstanden, erzählt Betriebsratsmitglied Dietmar Diek. „Wir haben uns gedacht, dass Herr Schmidt die Probleme, die wir haben, dann noch besser versteht. Und wir wussten, dass unser Chef spontan und offen für solche Sachen ist.“ War er tatsächlich, dennoch dauerte es einige Monate, bis der Plan in die Tat umgesetzt werden konnte.
Eine Woche unterwegs auf den Straßen rund um Recklinghausen
Das Problem ist weniger das Können, sondern das Dürfen. Bei der Bundeswehr hat der 63-Jährige den LKW-Führerschein gemacht. „Seitdem 41 Jahre unfallfrei gefahren“, wird er später scherzen. „Vor allem, weil ich nie wieder LKW gefahren bin.“ Dennoch hat er anscheinend wenig verlernt. Nur 24 Fahrstunden benötigt er, um den Führerschein Klasse D zu machen. „Die 25. war schon die Prüfung.“ Doch die allein reicht nicht. „Anschließend muss man auch noch die Berufskraftfahrer-Qualifikation bei der zuständigen Industrie- und Handelskammer erwerben“, sagt Schmidt – und das alles neben dem Job als Geschäftsführer.
Nun aber ist er für eine Woche unterwegs auf den Straßen des Kreises Recklinghausen. Und nach den ersten Tagen auch „ohne meldepflichtige Schäden“, wie Verkehrsplaner Schürholz als ständiger Begleiter bestätigen kann. Nur ein paar Bordsteine hat er mit den großen Reifen hin und wieder „geküsst“. „Aber das passiert anfangs jedem“, weiß Schürholz.
Auf der Landstraße gilt: „Volle Pedaltiefe nutzen“
Nach Dorsten geht die Fahrt an diesem Mittag, dann wieder zurück nach Marl und weiter nach Recklinghausen. Mal durch die engen Städte, dann wieder über die weitgehend freie Landstraße, auf der Schürholz seinem Chef rät, die „volle Pedaltiefe“ zu nutzen. Was den Tacho zwar höchstens auf 80 Km/h steigen lässt, aber trotzdem Verspätungszeiten kürzer macht.
Am Hauptbahnhof Recklinghausen ist die erste Tour des Tages nach 90 Minuten beendet. Schürholz blickt auf seine Uhr. Knapp eine Minute Verspätung. „Nicht schlecht.“ Vor allem, weil es zwischenzeitlich schon mal vier Minuten waren. „Zwei rote Ampeln hintereinander, und schon ist es mit der Pünktlichkeit vorbei“, hat Schmidt festgestellt.
„Wir suchen händeringend nach Leuten“
Es ist nicht die einzige Erkenntnis aus den ersten Tagen als Fahrer. Zwar seien die Passagiere friedlich, zum Teil sogar gut gelaunt gewesen, was sonst nicht immer der Fall ist. Probleme aber hat es dennoch gegeben. Zu kleine Haltestellen für die immer größer gewordenen Busse, falsch abgestellte Autos, die den Ein- oder Ausstieg der Fahrgäste verhindern oder zu kurze Pausenzeiten durch unvorhersehbare Verspätungen – „es ist schon etwas anderes, davon in Gesprächen zu hören oder es hautnah zu erleben“, gibt Schmidt zu. Genau das hatte sich der Betriebsrat von der Aktion erhofft. „Unser Geschäftsführer hat den Druck kennengelernt, den unsere Fahrer und Fahrerinnen jeden Tag aushalten müssen“, sagt Diek.
Noch vor Ende seiner Dienstwoche steht für den Chef der Vestischen dann auch fest, dass sich etwas ändern soll. Trennscharfe Navis für jede Linie will er in den Bussen installieren lassen, wo es geht, Haltestellen baulich verändern und für mehr Pausenräume an den Endpunkten der einzelnen Linien sorgen. Um sein Personal zu halten und neue Leute zu bekommen. „Wir suchen ja wie alle ÖPNV-Unternehmen händeringend nach Fahrern.“
Nicht zum letzten Mal einen Bus gefahren
Dass er nicht sofort alle Probleme lösen kann, ist Schmidt klar. Und dass neue hinzukommen können, weiß er auch. Deshalb ist eine Wiederholung der Aktion für ihn beschlossene Sache. „Ich werde mich“, kündigt er an, „künftig immer wieder mal hinter das Steuer eines unserer Busse setzen.“