Solingen. Solingen versucht nach dem Messerangriff zu begreifen: Anwohner trauern, eine Seelsorgerin erlebt eine Stadt in Schockstarre.
Sie steht ganz am Rand, eine schmale blonde Frau, die ihr strassbesetztes Handy wie einen Anker in der Hand hält. Sie wohnt direkt hier, sagt sie, zeigt auf ein beigefarbenes Mehrfamilienhaus mit dem Tattoostudio im Erdgeschoss, mit Blickrichtung zum Fronhof in Solingen. Am späten Freitagabend habe ihr Bruder sie angerufen. „Mach die Tür zu! Bleib zu Hause! Da ist einer mit einem Messer bei euch!“ Und die alleinerziehende Mutter und ihr zwölfjähriger Sohn hörten den Polizeihubschrauber über dem Dach, mit dem der zu diesem Zeitpunkt noch flüchtige Täter gesucht wurde, und schlossen sich ein.
Nur durch den Türspion habe sie geschaut. „Wo ist er?“
In Bildern: Nach der Messerattacke - Solingen in Schockstarre
Heute, eine schlaflose Nacht nach der Tat von Solingen später, steht die 35-Jährige ganz am Rand des Geschehens vor der Solinger Stadtkirche. Die Kirche grenzt an den Fronhof in der Innenstadt. Immer mehr Menschen stellen hier Kerzen ab, legen Blumen nieder, gedenken der drei Todesopfer und acht Verletzten der Messerattacke am Freitagabend. Drei Tage lang wollten die Solinger das 650-jährige Bestehen ihrer Stadt mit Musik und Bühnenprogramm feiern, als ein Fest der Vielfalt. Ein Jahr lang war das vorbereitet worden. Dann stach ein noch unbekannter Mann gleich am Eröffnungsabend in der Menschenmenge vor einer der Musikbühnen zu.
Eine ganze Stadt versucht zu begreifen, versucht Worte zu finden. „Man bekommt Angst vor den Menschen“, sagt die Mutter. „Ich schrecke vor Menschen zurück, die ich kenne, gucke hinter mich. Was passiert da mit uns?“ (Lesen Sie hier die aktuellen Entwicklungen im Newsblog.)
Schlaflose Nacht für Notfallseelsorger: „Im Moment funktioniere ich“
Die Stadtkirche steht im Zentrum der Trauer. Die hohen Türen stehen weit offen, drinnen reibt Simone Henn-Pusch (52) die Finger ihrer gefalteten Hände gegeneinander. Man sieht ihr die Müdigkeit an, die ganze Nacht war sie im Einsatz und koordinierte die 25 Seelsorger, die für Betroffene und Einsatzkräfte in der Stadt unterwegs waren.
Seit 1999 macht sie diese Arbeit. „Im Moment funktioniere ich“, sagt sie. Um sie herum Menschen, die dankbar die Hilfe der Seelsorger und Seelsorgerinnen annehmen. Wie dieses junge Mädchen mit dem blondem Zopf, das später sagen wird: „Ich bete für meine Stadt. Ich möchte nicht, dass sie in Angst lebt.“
Simone Henn-Pusch sagt, sie erlebe ihre Stadt in einer Art Schockstarre, so still, viele seien zu Hause geblieben. Und doch sei sie zufrieden, eine Anlaufstelle geben zu können. Dann setzt sie sich im großen Kirchenraum auf den Stuhl neben eine Einsatzkraft. Dieses Gespräch wird lange dauern.
Fronhof ist abgesperrt, die Spuren der Tat sind noch weithin sichtbar
Der Fronhof selbst ist abgeriegelt. Polizistinnen und Polizisten sprechen davor mit Passanten, notieren sich Aussagen. Wer einen Blick auf den von Kirche und Ladenlokalen eingefassten Innenstadtplatz erhascht, sieht einen Ort, der wie eingefroren in der Augustsonne liegt. Ein großer grüner Sonnenschirm liegt falsch herum auf dem Boden vor der Bühne, zwei rote Pavillons stehen dort, darunter die Spuren der Tat.
In der Nähe hört man einen Straßenmusiker Akkordeon spielen, in einem Café gegenüber sitzen Menschen und unterhalten sich ruhig.
Vor der Absperrung stellt sich ein AfD-Politiker auf, seine Begleitung im kurzen Kleid mit Hund filmt, wie er von Grenzschutz und der Politik seiner Partei spricht. Früh nach dem Anschlag wurde in den sozialen Medien über das Aussehen des Täters spekuliert und die Tat mit der Flüchtlingszuwanderung in Verbindung gebracht.
„Wir sind alle Muslime, wir sind alle Türken. Was, wenn die Menschen jetzt alles vermischen?“
Havva Yilmaz sagt: „Wir sind alle Muslime, wir sind Türken. Was, wenn die Menschen jetzt alles vermischen?“ Die 46-Jährige wischt sich Tränen von der Wange. Yilmaz war auf dem Fest. Sie hatte extra früher Feierabend gemacht, um sich mit sechs Freundinnen dort zu treffen. „Wir wollten einfach nur tanzen, feiern, etwas essen, etwas trinken. Mehr nicht.“ Dann habe sie von dem Angriff erfahren, habe Panik bekommen. „Wir sind schnell weg, was sonst.“
Yilmaz arbeitet für die städtischen Kliniken, sie kennt ihre Stadt, Solingen sei immer so schön gewesen. Aber in diesem Jahr war da so viel, zuletzt eine Explosion in der Innenstadt, nun das. Die 46-Jährige sucht oft nach Worten. „Meine Freundinnen haben gesagt, ich bin verrückt, dass ich heute hierhergekommen bin und eine Kerze hinstelle. Aber ich will keine Angst haben.“
Auf dem Platz vor der Kirche treffen am frühen Nachmittag immer mehr Menschen ein, es wird gemeinsam gesungen. Es werden weiter Blumen und Kerzen niedergelegt. Man kann auf einem Transparent unter dem Schriftzug „Du bist nicht allein“ seine Trauer niederschreiben. Ein gerahmtes Foto steht dort. Es zeigt einen Mann in Windjacke. Er lächelt in die Kamera.
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