Essen. Er war nicht der erste, aber er ist der Letzte. Der Otto-Versand wird 75 Jahre alt. Wie er schaffte, was allen anderen misslang.
Otto, das ist viele Jahre nicht denkbar ohne den Zusatz „Katalog“. Der am 17. August 1949 gegründete Hamburger Versender gehört zu den 60er- und 70er-Jahren wie Super-8-Kamera und Pril-Blumen. Genau wie die beiden großen Versandhaus-Konkurrenten Quelle und Neckermann. Ich sehe den Katalog noch vor mir, in diesem großen schwarzen Schrank mit den Schiebetüren, in den meine Mutter die jeweils aktuellen Ausgaben packte, wenn sie nicht gerade darin herumblätterte. Was sie oft tat. Genau wie meine Oma, die unten im Haus wohnte und das selbige nicht mehr so gerne verließ.
„Neckermann macht‘s möglich“
Dann saßen sie da und stöberten. Traumkunden für jeden Herausgeber von Versandhaus-Katalogen. Anders als mein Vater und mein Opa. Der eine wollte nichts, der andere hatte angeblich alles. Ich nicht. Ich wollte viel, weil ich dachte, ich hätte zu wenig. Deshalb schnappte ich mir als Kind oft den Katalog, den die anderen gerade nicht lasen. Am liebsten nahm ich Otto. Da war das meiste Spielzeug drin.
Die „Space Station – Planet Y“ etwa für 14,95 Mark. Oder das Original Bonanza Rad für 205 Mark. Als Achtjähriger weiß man solche Angebote zu schätzen. Wir waren nicht arm, wir waren nicht reich. Wir waren genau die Zielgruppe der Versandhäuser. Flüssig genug, um zu bezahlen, wenn auch in Raten, preisbewusst genug, um im Katalog zu bestellen. Ob neue Schrankwand, die Hollywood-Schaukel oder den ersten Geschirrspüler, wir wussten: „Neckermann macht’s möglich“.
Wir waren wie Millionen andere zwischen Alpen und Nordsee. Wir sorgten für die goldenen Jahre des Versandhandels, in denen es irgendwann reicht, nur „Otto-Versand, Hamburg“ auf seinen Bestellzettel zu schreiben und man trotzdem sicher sein kann, dass der Brief an die richtige Adresse geht.
Der Katalog als Fundgrube für die ganze Familie
Das Konzept an sich ist schon damals nicht neu. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es Versandhändler. Aber das sind viele Jahre Spezialisten. Bader vertreibt Textilien, bei Eduscho wird Kaffee verschickt, Klingel bietet Uhren an. Bis Gustav Schickedanz in den späten Zwanzigern die Idee hat, das Angebot zu erweitern. „An der Quelle“ und eben nicht im unüberschaubar-marktschreierischen Kaufhaus wollen die Menschen einkaufen, glaubt er – und versendet einen Katalog, den er „Fundgrube für die ganze Familie“ nennt.
Das ist etwas viel versprochen, weil sein Quelle-Versand anfangs nur Wäsche, Strickmoden und Körperpflegeprodukte anbietet, aber es ist der Beginn des Universalversandes. Auch die Konkurrenz fängt nach dem Zweiten Weltkrieg klein an. Der erste Neckermann-Katalog – 1948 noch „Preisliste“ genannt – umfasst zwölf Seiten und 133 Textilangebote, hat aber schon eine Auflage von 100.000 Stück. Da kann Werner Otto mit seinem „Otto Versand – Hamburg“ zum Start nicht mithalten.
Der erste Katalog aus dem Jahr 1950 ist noch handgebunden und hat gerade mal eine Startauflage von 300 Stück. Auf 14 Seiten werden 28 Paar Schuhe präsentiert, die Fotos sind aufgeklebt. Aber dafür führt Otto, nach eigener Aussage als erster, den Kauf auf Rechnung ein. „Vertrauen gegen Vertrauen“, das kommt an bei der Kundschaft der Wirtschaftswunderjahre. Die Expansion nach der Gründungsphase des Unternehmens verläuft rasant; nach rund zehn Jahren beschäftigt der Otto-Versand schon an die 1000 Mitarbeiter, und in Hamburg-Bramfeld entsteht die neue Unternehmenszentrale.
„Hausputz macht stets Freude“
Jahr für klettern die Umsätze der Versandhäuser. Die Deutschen bestellen, als gäbe es kein Morgen. Vor allem Textilien sind gefragt. Aber das ist nicht alles. Was es auf dem Markt gibt, findet man auch im Katalog. Die Deutschen zwischen Kiel und Konstanz blättern mit wachsender Begeisterung darin. Vor allem auf dem Land und in Kleinstädten. Wo es oft zwar Bäcker, Metzger und einen Tante-Emma-Laden, aber keine Boutique, kein Schuhgeschäft, erst recht kein Kaufhaus gibt. Muss es nun nicht mehr – dem Bestellzettel und der Bundespost seien Dank.
Es ist die Zeit, in der Models noch Mannequins heißen und die Männer ihre Hemden, Hosen und Sakkos mit qualmender Zigarette oder gut gefülltem Whisky-Glas in der Hand präsentieren. Und in der sich niemand darüber aufregt, dass auf der Seite mit dem Titel „Hausputz macht stets Freude“ nur Frauen mit Schürzen zu sehen sind. Es ist die Zeit, in der die Versandhauskataloge öfter in die Hand genommen werden als jedes Buch im Haus, weil man in ihnen alles findet, was man braucht – und vieles, was man gerade nicht braucht. Aktenvernichter oder Trockenhauben zum Beispiel. Eine Kiste Schrotpatronen oder eine Fertiggarage. Eine finnische Sauna oder eine Lebensversicherung. Solche Sachen eben.
Der Fall der Berliner Mauer wird zum großen Geschäft
Da wundert es nicht, dass der Otto-Versand Mitte der 60er-Jahre, als sich Werner Otto aus gesundheitlichen Gründen aus der Firma zurückzieht, einen Umsatz von mehr als 500 Millionen Mark macht. Aber Rezession und drastische Gebührenerhöhungen bei der Bundespost lassen die Umsätze Mitte der 70er-Jahre drastisch einbrechen. Und dass Discounter wie Aldi oder Lidl beginnen, neben Wurst und Käse auch Hemden und Hosen zu verkaufen, macht es nicht besser.
Dann aber fällt – völlig unerwartet – die Mauer zwischen Ost und West, und 16 Millionen neue Bundesbürger machen, was sie fast 30 Jahre nicht machen konnten: Sie bestellen sich per Versandhauskatalog, was nicht niet- und nagelfest ist. Allein in den Jahren 1990 und 1991 wächst der Umsatz der Versender um 43 Prozent. Doch von da an geht es bergab. Erst langsam – als das Internet aufkommt, immer schneller. Die Goliaths werden zu Davids, können nicht mehr mithalten mit dem gigantischen Angebot und dem Service von Online-Händlern wie Amazon.
In der Blütezeit mehr als 50.000 Mitarbeiter
2009 geht Quelle pleite, Neckermann stellt 2012 erst seinen Katalog ein, dann Insolvenzantrag. Otto aber bleibt. Vor allem, weil die Verantwortlichen die Möglichkeiten des weltweiten Datennetzes früh erkennen. 1995, als gerade einmal eine Viertelmillion Menschen noch über Modem ins Internet gehen, geht der Versender mit. „Viele Konkurrenten, die zu spät auf das Internet gesetzt haben, die gibt es heute nicht mehr“, hat Michael Otto, Werner Ottos ältester Sohn, später mal gesagt.
Unter ihm, der das Unternehmen 1981 als Vorsitzender des Vorstands übernimmt, wird Otto zu einem Weltunternehmen, das erst in Europa, später auch in die USA, nach Japan, Russland und China expandiert. In Michael Ottos Amtszeit vervielfacht sich der Umsatz auf rund 11,5 Milliarden Euro, die Zahl der Mitarbeiter steigt auf mehr als 50.000.
Heute sind die alten Kataloge gesuchte Sammlerstücke
Nur den Katalog aus Papier hat das auch bei Otto nicht retten können, obwohl seit den 90ern unter anderem Supermodels wie Cindy Crawford, Elle MacPherson, Claudia Schiffer und Gisele Bündchen auf dem Cover prangen. Als die letzte Ausgabe 2018 erscheint, bestellen bereits 97 Prozent der Kunden digital im Internet. Wohl auch deshalb steht „Ich bin dann mal App!“, auf der Titelseite der finalen Papierausgabe, auf dem ansonsten ein namenloses Covergirl den Kunden aus einem Smartphone heraus anblickt.
Ganz verschwunden ist der Otto-Katalog allerdings nicht. Und auch an Quelle und Neckermann erinnern sich viele Menschen anscheinend gerne. Im Internet werden vor allem ältere Ausgaben jedenfalls für teils dreistellige Beträge gehandelt – und kosten damit mehr als das meiste, was es damals in ihnen zu kaufen gab.