Essen. Puzzeln boomt. Aber es ist mehr als eine Freizeitbeschäftigung, sagen Mediziner. Warum das Zusammenstecken der Gesundheit so gut tut.
Da liegt sie vor mir, die Zugspitze. Berge, Himmel, Schnee – alles zersplittert in 1000 Teile und seit vielen Jahren auf dem Dachboden vergessen. Und ich will sie wieder zusammensetzen. Denn Puzzeln ist wieder angesagt, heißt es, sogar von Boom wird gesprochen. Und dass es beruhigend, ja sogar gesund sei, die kleinen Teilchen wieder zusammenzusetzen. Stimmt das?
Zumindest das mit dem Boom ist nicht verkehrt. Allein Spielehersteller Ravensburger, einer der größten der Branche, verkaufte zuletzt knapp 30 Millionen Spiele jedes Jahr. Und nicht nur die Deutschen legen gerne Teilchen zusammen. In den USA puzzelt einer Umfrage zufolge nahezu jeder zweite Erwachsene mindestens einmal im Jahr. Einer von fünf macht das sogar jeden Monat.
Puzzle können sich zunächst nur Wohlhabende leisten
Kaum jemand wäre darüber wahrscheinlich überraschter als John Spilsbury. Der englische Kartenhändler und Kupferstecher gilt als Erfinder des Puzzles – ähnlich, wie wir es heute kennen. Er hat allerdings kein Spiel im Sinne, sondern will Wissen vermitteln, als er 1766 zur Stichsäge greift und eine auf Holz geklebte Englandkarte entlang der Grafschaftsgrenzen in ihre Einzelteile zerlegt und Schüler bittet, sie wieder zusammenzusetzen. Anders als heute lagen die Teile damals aber noch lose aneinander, was das Verrutschen des Motivs eher zur Regel als zur Ausnahme machte. Apropos Motiv: Bilder auf der Verpackung gibt es anfangs auch nicht, sodass niemand weiß, was er da eigentlich zusammenpuzzelt.
Gut 100 Jahre später wird das sogenannte „Interlock-Puzzle“ erfunden, bei dem die einzelnen Teile miteinander verschränkt sind. Die Hersteller nehmen nun auch Erwachsene als Kundschaft ins Visier und bringen zerlegte Bilder von Landschaften, Gebäuden und bekannten Persönlichkeiten auf den Markt. Die Zahl der Spieler bleibt dennoch überschaubar. Denn Puzzeln ist damals ein teures Vergnügen, das sich lange nur sehr wohlhabende Familien leisten können. Vor allem, weil alles in Handarbeit entsteht. Erst als in den 1930er Jahren Maschinen auf den Markt kommen, die die Einzelteile binnen kurzer Zeit millionenfach aus zugeführter Pappe ausstanzen können, werden Puzzles zur Massenware.
Erster Boom in den 1960er-Jahren
In Deutschland ist das Spiel fest mit dem Namen Otto Maier Verlag verbunden, aus dem später die Firma Ravensburger wird. Schon 1884 stellt er „Legespiele mit Lerneffekt“ her, seit den 1960ern gibt es auch hier Interlock-Puzzles. Und bis in die späten 70er gibt es deshalb so gut wie keinen Geburtstags- und Weihnachtsgeschenktisch, auf dem nicht irgendwann einmal ein Puzzle steht. Nach und aber verliert das Puzzle an Bedeutung.
Es verschwindet nicht ganz, gerät aber in deutschen Haushalten in Vergessenheit. Städteansichten und wilde Naturlandschaften. Die Mainzelmännchen und Micky Maus. 50, 100, 500, 1000 oder 5000 Teile groß – sie alle wandern in Keller oder auf den Boden. Dann kommt Corona. Und seitdem läuft es wieder, wird auch viel neu gekauft. Und anders als früher beschäftigt sich nun auch die Wissenschaft mit dem Phänomen „Puzzle“.
Mittlerweile weiß ich: Der Versuch, den bekanntesten Berg Deutschlands wieder zusammenzusetzen ist gut für mich. Für jeden anderen natürlich auch. Mehrere Studien zeigen, dass es geistig fit hält. Grundsätzlich nämlich fordern und fördern Puzzles die Geduld, Konzentration und Ausdauer und logisches Denken.
Wer nicht schlafen kann, soll puzzeln, raten Ärzte
Aber es wird noch besser. Die sogenannte MacArthur-Studie aus den USA kommt zum Ergebnis, dass regelmäßiges Gehirnjogging mittels Puzzeln die Wahrscheinlichkeit einer Demenz- und Alzheimererkrankung reduziert und sich positiv auf Lebenserwartung und Lebensqualität auswirkt. Intensiv untersucht wurde der Puzzle-Effekt auch von der Universität Ulm. Das Ergebnis der Studie, die gemeinsam mit dem Ravensburger Spieleverlag durchgeführt wurde: Personen, die ihr Leben lang gepuzzelt hatten, waren kognitiv fitter als jene, die weniger oder gar nicht gepuzzelt hatten. Und die Deutsche Ärztezeitung rät schon seit Jahren: Wer nach mehr als 20 Minuten nicht einschlafen kann, sollte aufstehen und puzzeln. Kaum etwas anderes sei entspannender – zumindest so lange es nicht ewig dauert, bis man das nächste passende Teil findet.
Das Spiel mit den kleinen Teilen kann nach Einschätzung der Wissenschaftler einen Schutzfaktor gegen den geistigen Abbau im Alter darstellen. Es verbessere das Vorstellungsvermögen, habe eine beruhigende Wirkung – was für Menschen mit erhöhtem Blutdruck durchaus förderlich sei. Und Puzzeln hebt die Laune. Selbst erfahrene Spieler schwärmen von „dem Kick, wenn das letzte Teil verlegt ist“. Genau das ist mir allerdings noch nicht gelungen. Zu viel Himmel, zu viele Steine auf dem Motiv haben dieses Erfolgserlebnis bisher verhindert. Meine Laune ist deshalb auch nur unwesentlich besser geworden. Im Gegenteil: „Reg dich nicht so auf“, sagt meine Frau
Immer erst die Randstücke legen
Freunde geben mir mittlerweile Tipps. „Erst die Randstücke legen, immer erst den Rahmen bauen“, sagen die meisten. „Dann die anderen Teile nach Farben und Formen sortieren, um sich einen Überblick zu verschaffen.“ Ein anderer empfiehlt, „logisch und systematisch“ vorzugehen. Aber er hat auch seine Kugelschreiber farblich sortiert in der Tasche seines Oberhemdes stecken. „Alles Unsinn“, erinnert sich ein Dritter. „Ich bin immer in der Mitte angefangen.“ Am besten hat mir dann auch der Rat gefallen: „Kommt aufs Motiv an.“
Viel wichtiger ist am Ende aber nicht, wie, sondern wo man anfängt. Ess- oder Wohnzimmertisch zu blockieren, kommt bei Mitbewohnern oft nicht gut an und wird spätestens beim nächsten Besuch von Freunden zum Problem, das sich nur bedingt durch Gespräche in Zimmerlautstärke lösen lässt. Und selbst, wer so schlau ist wie ich und auf einer Sperrholzplatte gepuzzelt hat, ist nur einen kleinen Schritt weiter. Irgendwo muss die Platte mit dem halb fertigen Motiv ja von Wohnzimmer aus gelagert werden. Seit einiger Zeit gibt es deshalb spezielle Puzzlematten, die sich inklusive der bereits gelegten Teile zusammenrollen und verstauen lassen.
Dinge, über die die Teilnehmer der jährlichen Puzzle-Weltmeisterschaft wahrscheinlich nur müde lächeln, so schnell wie sie sind. In diesem Jahr findet sie vom 17. Bis zum 22. September im spanischen Valladolid statt. Dort kämpfen Solisten, Paare und Mannschaften gegen die Uhr und müssen Puzzles möglichst flott zusammensetzen. Der Vorjahressieger brauchte 37 Minuten und 59 Sekunden für ein 500-Teile Foto des Plaza del Milenio aus der Ravensburger-Kollektion. Die beste Mannschaft kam aus Tschechien und setzte zwei 1000-Teile-Puzzle in knapp 90 Minuten zusammen. Da braucht es keine Zwischenlagerung. Falls Sie mal mitmachen wollen, eine Registrierung ist unter https://www.worldjigsawpuzzle.org/ möglich. Startgeld 50: Euro. Preisgeld für den ersten Platz: 1000 Euro.
Es gibt aber auch ein Puzzle, das keine Platzprobleme hat. Es hat 100 Teile, benötigt jedoch nur fünf Quadratmillimeter Platz, denn jedes Teil hat nur die Größe eines Staubkorns. Um es zusammenzusetzen, haben Mitarbeiter im Laserzentrum Hannover einen speziellen Laser benutzt. Und wo wir gerade bei Superlativen sind: Das derzeit größte im Handel erhältliche Puzzle heißt „Travel around Art”, kostet 499 Euro, wiegt 30 Kilo, ist 8,64 x 2,04 Meter groß und hat 54.000 Teile.
In diesem Zusammenhang darf Peter Schubert nicht unerwähnt bleiben, der sich als einer der ersten Menschen daran gemacht hat, diese Reise durch die Kunst zusammenzusetzen. Bis er nach viereinhalb Monaten und 53.999 Teilen feststellte: „Da fehlt ein Teil“. Nach mehrtägiger erfolgloser Durchsuchung der Single-Wohnung und lange nicht erfolgreicher Reklamation beim Hersteller hat er sich das verschwundene Stück aus Teilen alter Puzzles selbst gebastelt. „Gemerkt“, sagt Schubert, „hat das niemand.“
Für mich eine Lehre. Ich habe die Zugspitze wieder auf den Dachboden gebracht. Immerhin: Der Rahmen ist fast fertig.