Ruhrgebiet. Bei der Deo- oder Blackout-Challenge werden Kinder und Jugendliche dazu aufgefordert, sich selbst zu verletzen. Aber warum tun sie das?
„Meine Tochter hat sich den Arm mit Deo verbrannt“, sagt Michaela S. aus Essen. „Ich dachte, ich hätte Hanna gut aufgeklärt über TikTok. Sie ist dreizehn und geht aufs Gymnasium. Ich hatte ihr doch erklärt, dass nicht alles echt ist, was sie in den Videoschnipseln sieht. Dass manches dumm ist oder gefährlich. Dann saßen wir am Tisch und ihre große Schwester sagte: Mama, du weißt schon, woher Hanna diese Wunde hat? Es war nur eine kleine Kälteverbrennung, aber für mich war das ein Schock. Je mehr du das Kind loslässt, desto mehr musst du vertrauen. Aber diesmal hatten meine Erklärungen nicht funktioniert.“
Hannas Verletzung ist kein Einzelfall. Fast alle Jugendlichen in Deutschland nutzen TikTok. (Rund 70 Prozent aller Unter-25-Jährigen sind registriert.) Und die Hälfte von ihnen bekommt Challenge-Videos angezeigt, die „Unwohlsein“ verursachen, jeder zehnte sogar täglich. Dies ergab eine aktuelle Studie der Uni München mit der Medienanstalt NRW. „Challenge“ bedeutet „Herausforderung“ – oft ist damit schlicht eine Mutprobe gemeint: Sprühen, bis es schmerzt. Würgen, bis es schwarz vor Augen wird. Chilli-Chips essen, bis die Tränen kommen.
Fatale Folgen
Ende April starb die 13-jährige Annabell aus dem Kreis Kassel in ihrem Zimmer. Sie hatte sich stranguliert. Die „Blackout“-Challenge auf TikTok habe sie dazu getrieben, erklärte die Mutter. Auch die Familie von Elias aus Olfen ging an die Öffentlichkeit, um zu warnen. Der 15-Jährige starb im September 2023, nachdem er sehr viel Deo eingeatmet hatte – angeblich eine verschärfte Variante der Deo-Challenge, bei der Hanna aus Mülheim sich den Arm vereist hat. Kurz zuvor soll auch die 17-jährige Leonie aus Scharbeutz an der Ostsee durch das Einatmen von Deo gestorben sein. Sie soll anderen Jugendlichen angekündigt haben, dass sie sich dabei filmen wollte. Anfang Juli starb eine 13-Jährige auf dem Güterbahnhof Schwerte durch einen Stromschlag. Mit Freunden hatte sie ein TikTok-Video drehen wollen.
Dies sind Extremfälle – und man muss vorsichtig sein mit einfachen Schlüssen. Die für Olfen zuständige Polizei Coesfeld warnte zwar gleich nach dem Tod von Elias ebenfalls vor den Gefahren von TikTok-Challenges. Allerdings konnte sie in ihren Ermittlungen keinen Hinweis finden, dass entsprechende Videos den 15-Jährigen motiviert hätten, erklärt ein Polizeisprecher auf Nachfrage.
„Blackout“ kann man nicht suchen, es findet einen
Tatsächlich hat TikTok die „Blackout-Challenge“ schon vor langem gesperrt, laut dem Unternehmen war sie nie ein Trend auf TikTok. Wer danach sucht, bekommt Videos angezeigt, in denen über die Gefahren aufgeklärt wird. Neue gefährdende Videos, erklärt eine Sprecherin des chinesischen Unternehmens, würden über einen dreistufigen Prozess gefunden und gelöscht: Zunächst suchen KI-Programme, dann die rund 830 Moderatoren in Deutschland, und schließlich können Nutzer Videos melden. Allein im letzten Quartal 2023 wurden so rund 250.000 Videos entfernt, die gefährliche Challenges beworben haben.
„Ich kann nicht immer hinter meinen Kindern stehen. Die sitzen auf dem Klo und gucken sich zwanzig Videos an. Die gucken so unheimlich viel.“
Allerdings könnten auch die populär gemachten Warnungen vor Challenges als Anleitungen missverstanden werden. Andere Portale wie YouTube oder Instagram sind ebenfalls nicht frei von gefährdenden Inhalten. Medienberichte wie dieser sorgen ebenfalls dafür, dass Challenges im Bewusstsein bleiben. Ältere Videos könnten privat zirkulieren. Auch ohne konkrete Aufrufe zur Nachahmung kennt ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen laut Studie gefährliche Challenges wie „Blackout“. Sie scheinen ein Eigenleben zu führen.
Ein Lob für TikTok
Auch die Medienschützer differenzieren: „Bei Fällen, in denen es um Suizid oder Lebensgefahr geht, wird TikTok wirklich schnell aktiv“, bestätigt Nadine Eikenbusch von der Medienanstalt NRW. „Aber bei Challenges, die keine fatalen Konsequenzen haben, wird kaum reguliert. Es gibt weiterhin Dinge, die Angst machen, die die Entwicklung beeinträchtigen können. Auch solche, bei denen sich jemand verletzen kann. Da gibt es Nachholbedarf bei TikTok.“ Weil auch die EU findet, dass TikTok die Jugend nicht ausreichend schütze, läuft seit Februar ein formelles Ermittlungsverfahren gegen den chinesischen Mutterkonzerns Bytedance.
„Die Sperrung von Videos und Suchbegriffen funktioniert meines Erachtens eher mäßig“, sagt auch Lisa Mutschke vom JFF (Institut für Medienpädagogik in München). „Es werden immer wieder Grauzonen gefunden. Beispielsweise hat sich in den letzten Jahren eine Kommunikationsstrategie namens Algospeak entwickelt. Da werden Buchstaben vertauscht oder durch Emojis oder Umlaute ersetzt, um den Filter auszutricksen. Außerdem werden andere Begriffe besetzt, um dort Videos mit gefährdendem Kontext auszuspielen.“
„Je lustiger und unterhaltsamer die Videos, desto viraler gehen diese und können innerhalb kürzester Zeit Millionen von Likes und Aufrufe erreichen. Genauso ist es leider auch mit gefährlichen Inhalten. “
Die Deo-Challenge zum Beispiel, mit der Hanna aus Essen sich am Arm verletzte, wird mittlerweile von TikTok reguliert, war es aber lange nicht. Warum die nun 13-Jährige sich diesen Kältebrand zugefügt hat, kann sie selbst nicht mehr recht erklären. „Ich hatte einfach davon gehört, habe das aber alleine gemacht und nicht gefilmt.“ Vielleicht war für sie einfach interessant, ob Deo tatsächlich solch einen Effekt haben kann: Physikexperiment statt Mutprobe. Das ist die Interpretation der Mutter.
Ausprobieren ohne zu filmen
„Wahrscheinlich ist es eher der Normalfall, dass eine Challenge in der Clique oder in der Pause ausprobiert wird, ohne dass dies gefilmt wird“, sagt auch Medienexpertin Eikenbusch. Nur die allerwenigsten Fälle werden bekannt, so wie im Mai in Berlin und in Lingen, wo sich jeweils Grundschülern bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt haben. Die Studie der Medienanstalt NRW zeigt: Zwölf Prozent der Kinder und Jugendlichen hat schon bei Challenges mitgemacht, bei denen man sich selbst oder anderen schaden sollte oder die sonstwie illegal waren: Zerstöre dein Schulklo! An vielen Essener Schulen war das zuletzt ein großes Problem. Schüler rissen Schlösser heraus, beschmierten Wände mit Kot. Einmal klemmte einer eine Klorolle an die Tür und zündete sie an.
„Nur ein Prozent der Challenges, die wir gefunden haben in der Studie, waren lebensgefährdend“, sagt Nadine Eikenbusch. „Aber 30 Prozent waren negativ, also psychisch oder physisch schädlich.“ Oft tanzt man einfach zum Song der Woche, aber dann gibt es eine No-Bra Challenge, bei der ohne BH „gebounct“ werden soll, was als feministisch verkauft wird, aber oft in Sexualisierung abgleitet.
Ein Ei am Kind öffnen
Bei der „Egg Crack Challenge“ wird ein hartes Ei an der Stirn geöffnet, allerdings nicht an der eigenen. Die nichtsahnenden Statisten sind zudem oft die Kinder der Nutzer. Bei der „Wenigstens Challenge“ zählen die Teilnehmer alle schlechten Eigenschaften ihres Gegenübers auf: „Wenigstens bin ich nicht ...“ Die „Banana and Sprite Challenge“ ist selbsterklärend, das Lustige daran: der Brechreiz.
„Bei Fällen, in denen es um Suizid oder Lebensgefahr geht, wird TikTok wirklich schnell aktiv. Aber bei Challenges, die keine fatalen Konsequenzen haben, wird kaum reguliert. “
Jugendliche sind übrigens nur selten die Urheber solcher Challenges. Die erwachsenen „Creators“ folgen oftmals finanziellen Interessen: „Klicks zu generieren, ist eine wichtige Motivation, um solche Challenges in die Welt zu setzen und zu verbreiten“, sagt Eikenbusch. Als Marketinginstrument haben sie sich in der harmlosen Variante auch in der Werbung und der Musikbranche etabliert. Die Prognose der Expertin: „Challenges werden eher zunehmen, als dass sie abnehmen.“
Auch die Mitschüler haben‘s gemacht
Hanna bekommt negative „Challenges sehr selten angezeigt, vielleicht alle zwei Monate. Wenn ich die liken würde, dann wäre das aber sicher häufiger. Aber irgendwer bekommt es immer mit in der Klasse.“ Über die Würge-Challenge, bekannt auch als „Pilotentest“ haben die Schüler gesprochen, „aber in dem Sinne, dass es dumm ist. Da ist ja dieses Mädchen bei gestorben.“ Hanna meint Annabell aus Kassel. Dennoch hätten Mitschüler den „Pilotentest“ gemacht. „Man atmet schnell und drückt dann auf die Brust.“ Ob sie ohnmächtig wurden, weiß Hanna nicht. Gefilmt haben die Mitschüler offenbar nicht. Hanna glaubt, dass es „schon eine Art Mutprobe“ war.
Was können Eltern bei TikTok-Challenges tun?
„Die Sorge von Eltern ist natürlich groß, wenn sie extreme Beispiele hören“, sagt Nadine Eikenbusch von der Medienanstalt NRW. „Aber sie sollten sich zurückerinnern. Auch früher ging es darum, Grenzen auszutesten und sich zu profilieren. Wahrscheinlich hat jeder schon mal eine Mutprobe mitgemacht – oder einen Kettenbrief versendet. Und nicht alles ist nur schlecht und nur schlimm.“ Das Phänomen der Mutprobe verbreitet sich heute nur viel stärker und schneller.
Wer Kindern von den eigenen Erfahrungen berichtet, könne besser vermitteln, dass es auch zu Gefahren kommen kann, glaubt Eikenbusch. Verständnis und Interesse seien besser als der erhobene Zeigefinger.