Gelsenkirchen. Auf TikTok kann man „Live-Geschenke“ machen. Auch Jugendliche geraten in die Kosten-Falle – selbst wenn sie offiziell geschützt sind.
„Und, wer von Euch kennt Barello?“
Die Jugendlichen auf der Couch sind 15 bis 17 Jahre alt, kommen aus Gelsenkirchen-Ückendorf – und alle kennen sie den Krawall-TikToker. „Barello wird live von der Polizei gejagt“, „Yasser ist geschockt von Barellos Essen“, „Barello und Arafat GETRENNT“. Mit solchen Filmchen hat der 23-jährige Deutsch-Albaner aus Hannover es auf über 170.000 Fans gebracht, auf TikTok wurde sein Name 1,5 Milliarden Mal gesucht. Er ist ein Faktor in der bildungsfernen Blase. Oft geht Barello mit „Arafat“ Abou-Chaker „live“, ein deutsch-libanesischer Clan-Boss, der schon als „Manager“ den Rapper Bushido kontrollierte. Beide verdienen viel Geld mit den Gerüchten und „Fakes“, die sie in Umlauf bringen. Und ihre jugendlichen Fans beschenken sie – obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist.
„Was ist Barello für Euch – Held oder Witzfigur?“
„Witzfigur.“ – „Der macht sich lächerlich“, sagt einer. „Der macht Fitna“, rufen mehrere. „Fitna“ ist arabischer Slang für „Zwietracht sähen“. Die Jugendlichen, die wir im Gelsenkirchener Jugendtreff Ücky treffen, haben das System durchaus verstanden. „Er beleidigt andere.“ Um „Ehrverletzungen“ geht es da, meist um Belanglosigkeiten: Der hat hinter meinem Rücken mit dem geredet. Auch Rededuelle, bei denen es oft um die kreativsten Beschimpfungen zu gehen scheint, veranstalten Barello, Arafat und ihr Kreis von Krawallos mit Künstlernamen wie Engelsgesicht und Arroganter Pate. Der heißt bürgerlich Mahmoud, wird dem Essener Hassan-Clan zugerechnet und steht im Verdacht, die Tumulte in der Essener Innenstadt mit seinen Stänkereien auf Youtube mitausgelöst zu haben.
„Wer schaut sich das an?“
Die Couch winkt ab. „Früher, aber jetzt nicht mehr“, sagt ein 15-Jähriger. Was Barello aktuell treibt, darüber sind die Jugendlichen dennoch genauestens informiert. Dass er jüngst zu Gewalt und zum Boykott jüdischer Produkte aufgerufen hat. Dass er danach seine Abschiebung vorgetäuscht hat. Tagelang ließ er seine TikTok-Freunde raunen: „Wir erreichen ihn nicht, seine Schwester meint, er wurde abgeholt.“ Andere stiegen darauf ein, stellten das Gerücht als Tatsache dar. Es war alles frei erfunden, Barello tauchte plötzlich wieder auf, begann zu erklären, wie das gelaufen sei mit seiner Nicht-Abschiebung, wechselte aber mitten im Satz das Thema.
Die Jungs auf der Couch finden das wenig überraschend: „Der hat auch vorgetäuscht, dass er Krebs hatte.“ – „Es ist immer das Gleiche. Der macht Fitna.“ – Aber bleibt nach diesem tagelangen Krawall nicht doch hängen, dass man in Deutschland nichts mehr sagen darf, ohne abgeschoben zu werden? Dutzende, wenn nicht Hunderte Videos, in denen Barellos Untersuchungshaft und Abschiebung behauptet wird, bleiben online (auch auf YouTube). Dabei geht TikTok durchaus gegen Barello vor, sperrt immer wieder seine Konten. Was dieser in eine Verschwörungserzählung ummünzt, die ihm weitere Klicks beschert. Barello kündigte in diesem Zuge an, TikTok zu verlassen – man wird sehen.
„Und wer hat Barello nun schon mal etwas geschenkt?“
Eine Rose! Dem Jungen auf der Couch ist es ein bisschen peinlich, aber nur kurz. Es war ja nur eine Rose, die er Barello geschickt hat. Auf TikTok kann man „Live-Geschenke“ machen. Man kauft zunächst mit echtem Geld die interne Währung „Münzen“, und mit diesen wiederum die „virtuellen Gegenstände“, die nicht viel mehr sind als animierte Emojis. Ein „Gefällt mir“, das mit Geld aufgeladen ist. Eine Rose kostet etwas mehr als ein Cent, ein Döner Kebab 7,5 Cent (genauso viel wie ein Panda), ein Geburtstagskuchen ist rund 4,5 Euro wert, eine Yacht 150 Euro und der Hauptpreis, das TikTok-Universum: 525 Euro.
Aber wie hat der Junge aus dem Ücky diese Rose kaufen können? Nach den TikTok-Richtlinien, auf die eine Unternehmenssprecherin verweist, muss man dafür mindestens 18 Jahre alt sein. In der Realität aber überprüft TikTok die Altersangabe seiner Nutzer nicht. Der Junge musste auch nicht die Kreditkarte seiner Eltern missbrauchen. „Man kann auch mit Prepaid-Karten von Apple oder Paysafe einzahlen, die gibt‘s an jeder Ecke.“ Haben die meisten auf der Couch schon gemacht. Die Rose aber hat der Junge überhaupt nicht kaufen müssen. Er hat „Münzen“ auf TikTok gewonnen, denn bei den Live-Matches veranstalten die Influencer auch mal selbst Gewinnspiele. Wer zuerst klickt, bekommt Centbeträge. Das erhöht natürlich Zahl und Treue der Zuschauer.
Für Barello, Arafat und andere „Content Creators“ ist das ebenso lukrativ wie für die Plattform, denn TikTok behält einen Anteil der geldwerten Live-Geschenke ein (es soll die Hälfte sein). „Ich vermute, dass dieses System zumindest dazu einlädt, problematische Inhalte zu publizieren“, erklärt Prof. Jasmin Riedl von der Universität der Bundeswehr München. „Unsere Aufmerksamkeit geht nicht nur dahin, wo es laut ist, sondern auch dorthin, wo negative Dinge besprochen werden“, sagt die Politikwissenschaftlerin und Social-Media-Expertin. „Auch das konspirative Element zahlt hier ein: Von mir kriegt ihr Geheimwissen. Und Desinformation entspricht dieser bestimmten Aufmachung.“
Wo soll die Medienkompetenz herkommen?
„Das Problem ist, dass die Auseinandersetzung mit Social-Media-Inhalten ein hohes Maß an Medienkompetenz voraussetzt“, sagt Riedl. Die ist im bildungsfernen Publikum der Krawall-TikToker kaum zu erwarten. Hinzu kommt das junge Alter der Zuschauer. Aus Studien weiß Riedl, dass bereits Kinder ab sechs Jahren eine relevante Nutzergruppe auf TikTok darstellen – auch wenn man offiziell 13 Jahre alt sein muss.
TikTok neigt noch stärker als Facebook & Co. dazu, den Nutzern ähnliche Inhalte zu präsentieren. Oder wie Andreas Pauly vom Verein Mediensuchtprävention NRW sagt: „Es ist eine große Suchtfalle. Und es gibt zu viele schlechte Vorbilder, die ungefiltert etwas machen, zum Beispiel über Juden lästern.“ Bei den Alterskontrollen sieht Pauly den Gesetzgeber in der Pflicht, den Plattformen echte Kontrollen vorzuschreiben. „Die Eltern stehen natürlich in der Mitverantwortung. Sie müssen ermutigt werden, da reinzugehen – speziell die, die nicht gut Deutsch sprechen.“
Im Gelsenkirchener Jugendzentrum wollen sie das Thema offensiv angehen. Leiter Erkan Öztürk hat Mittel eingeworben für das Medienkunde-Projekt „Ücky Digital“. Er will, dass die Jugendlichen die Mechanismen verstehen, mit denen sie manipuliert werden. Die Jugendlichen sollen auch ihren eigenen Ücky-Kanal gründen mit „gesunden Inhalten“. Öztürk sagt: „Barello und diese andere Influencer sind sehr sprachgewandt. Er hat schon vor Jahren gecheckt, dass er mit dummen Sprüchen Geld machen kann. Und seitdem stellt er sich dümmer als er ist. Er weiß genau, was er sagen muss, um die Leute zu triggern.“
„Aber warum schenkt man Barello eine Rose?“
„Ich wollte, dass der andere bestraft wird.“, sagt der Junge. „Der sollte Stinkefisch essen“, schwedischen Gammelhering aus der Dose. Bei den Duellen gewinnt der, der mehr einheimsen kann. Und der Unterlegene wird bestraft. Weil alle das sehen wollen, fliegen die Rosen und Pandas und Einhörner nur so während solcher Matches. „Gleich rasiere ich mir eine Glatze, sagen die“, erklärt ein Jugendlicher. „Oder ich muss den Fernseher aus dem Fenster werfen. Aber dann ziehen sie das Ganze in die Länge.“ Denn jede Minute bringt Geld.
„Es ist das Prinzip Jahrmarkt“, erklärt Ücky-Übungsleiter Elias Gebh (22). „Da ist man früher hingegangen, um sich den größten Trottel anzuschauen.“ Und: „Warum piesackt man einen Jungen in der Grundschule? So ähnlich funktionieren Bestrafungen auf TikTok. Manchmal sind sie harmlos. Aber wenn man auf einer Flasche sitzen soll, wird damit eine Vergewaltigung angedeutet“, sagt Gebh. „Und irgendwann werden die Bestrafungen nachgespielt.“
„Ich kenne Leute Ende 20, Anfang 30“, sagt Gebh. „Für die sind zwei, drei Euro nicht so viel Geld wie für die Kids. Aus stumpfer Langeweile oder Handyabhängigkeit verschenken sie Geld. Einer hat mir mal gesagt: „Oh Mann, ich hab diesen Monat mehr als 100 Euro dafür ausgegeben.“ Bei der Verbraucherzentrale sind deswegen noch keine Beschwerden aufgeschlagen, wohl aber warnt sie vor dem Trend #KlarnaSchulden. Unter diesem Hashtag protzen vor allem junge Menschen in den Sozialen Medien mit ihren Schulden beim Zahlungsanbieter Klarna – ein verwandtes Phänomen.
„Was glaubt ihr, wie viel Geld kommt zusammen in einem Match?“
Zögern. „5000 Euro bestimmt. Oder mehr.“ Selten ist es nicht, dass ein „TikTok-Universum“ für 525 Euro durch den Äther fliegt. „Eigentlich in jedem Stream“, sagt ein Junge. „Das sind die auch manchmal selber“, mutmaßt der nächste. Schwebt ein Universum über den Schirm, wird es kurz lauter, die Empfänger jubeln – und die Erregung greift auf die Fans über. Es ist eine seltsame Welt, in der Geld so locker verschenkt wird. Aber ist das wirklich so unbegreiflich? Man stelle sich nur vor, im Fußball würde Geld ganz wörtlich Tore schießen. Fans könnten mit Geschenken das Spiel gewinnen.
Genau das passiert auf TikTok.