Essen. Das Leben im Pflegeheim ist in NRW so teuer wie nie. Trotzdem fehlen Betreibern im nördlichen Ruhrgebiet Millionen. Wie kann das sein?
Das Leben im Pflegeheim wird seit Jahren teurer - und trotzdem drohen immer mehr Heimbetreibern vor allem im nördlichen Ruhrgebiet wirtschaftliche Nöte. Die umtriebige Arbeitgeberinitiative Ruhrgebietskonferenz Pflege spricht von Millionensummen, die den Betreibern derzeit fehlten, und warnt vor den Folgen eines regelrechten Verhandlungs- und Bearbeitungsstaus bei den Pflegeversicherungen und in den Behörden, der die Versorgung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen gefährde. Was läuft da schief?
Für die Recklinghäuser Caritas kann das Malte Wulbrand erklären. Bereits seit Jahresanfang warte der Wohlfahrtsverband auf Zahlungen der Pflegekassen. Konkret gehe es um rund eine Million Euro Mehrkosten, die bis Ende Juni aufgelaufen seien. Die Caritas könne das derzeit mit Rücklagen überbrücken, versichert Wulbrand, der für die Pflegeheime und ambulanten Dienste verantwortlich ist.
Verhandlungstau bei den Pflegekassen: Heime nutzen Rücklagen
„Wir nutzen Rücklagen und überlegen bei nötigen Investitionen, wo wir etwas aufschieben können, ohne dass unsere Bewohner irgendeinen Nachteil haben“, versichert der Pflegefachmann der Caritas, die Mitglied in der Ruhrgebietskonferenz Pflege ist. „Wir reden hier noch nicht von Schließung oder Insolvenz. Trotzdem gehen wir enorm in Vorleistung. Und wie viel wir von den Mitteln rückwirkend noch bekommen werden, ist völlig ungewiss.“
Insolvenzen hatte es vor allem 2023 gegeben: Innerhalb eines Jahres hatte sich die Zahl der betroffenen Einrichtungen in NRW auf rund 130 Heime und ambulante Dienste verfünffacht.
Auf die Gelder warten Heimträger in Teilen des Ruhrgebiets derzeit, weil die Pflegekassen mit den sogenannten Pflegesatzverhandlungen nicht hinterherkommen. Jedes Jahr verhandeln die Heime mit den Kassen über das Geld, das sie für die Pflege ihrer Bewohnerinnen und Bewohner erhalten. Das ist in diesem Jahr auch deshalb relevant, weil im Frühjahr die Tariflöhne um 5,5 Prozent plus Sonderzahlungen gestiegen sind - Mehrkosten wie diese bestreiten die Heime selbst, bis die höheren Pflegesätze vereinbart sind. Und das dauert in diesem Jahr besonders lange: Bis zu sechs Monate warten sie für etwas, das in der Vergangenheit oft schon innerhalb eines Tags vereinbart worden ist.
„Wir reden hier noch nicht von Schließung oder Insolvenz. Trotzdem gehen wir enorm in Vorleistung.“
Hinzu kommt offenbar ein Bearbeitungsstau bei den staatlichen Behörden. Das Evangelische Johanneswerk als einer der größten Betreiber von Altenhilfe in NRW berichtet von einer einstelligen Millionensumme an Investitionskosten, die es seinen Bewohnern gegenüber nicht abrechnen könne, weil die Bescheide des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe fehlten. Mit einer unangenehmen Folge: Teils erst nach Jahren müsse man Angehörige von Verstorbenen anschreiben und nachträglich einen Anteil an den Kosten für Investitionen eintreiben, den der pflegebedürftige Bewohner zu Lebzeiten im Heim hätte zahlen müssen.
Das Verständnis ist erwartbar gering: „Das kann man eigentlich keinem vernünftigen Menschen erklären“, sagt Bodo de Vries, Vize-Chef des Johanneswerks. Zahlungen würden abgelehnt, Mahnungen müssten verschickt werden.
Durchschnittlich 2900 Euro für einen Heimplatz
Obendrauf kommt, dass die Heime wohl auch noch auf staatliche Gelder warten müssen. Menschen, die sich das Leben im Heim nicht leisten können, erhalten staatliche Hilfe. Die Sozialämter müssen die Anträge bewilligen und kommen offenbar ebenfalls kaum hinterher. Denn immer mehr Menschen nehmen die „Hilfe zur Pflege“ in Anspruch. Für einen Pflegeplatz in NRW muss ein Bewohner derzeit im ersten Jahr durchschnittlich knapp 2900 Euro im Monat aus eigener Tasche zahlen - zusätzlich zu dem, was von der Pflegekasse kommt. Das können sich immer weniger pflegebedürftige Menschen leisten.
Inzwischen gibt es Heime, in denen 80 Prozent und mehr der Bewohner Sozialhilfe bekommen. Solange ein Sozialamt einen Hilfe-Antrag nicht bewilligt, geht das Pflegeheim aber in Vorkasse für den Bewohner. Ein größerer Träger in NRW spricht von Forderungen in der Höhe von über vier Millionen Euro, die deshalb offenstünden.
Personalnot, neue Gesetze und viele Anträge bei den Kassen und Behörden
Die Pflegekassen wollen den Bearbeitungsstau auch gar nicht leugnen. Der Verband der Ersatzkassen, der für die Barmer oder Techniker Krankenkasse mit den Heimen für Pflegesätze verhandelt, nennt eine Reihe von Gründen. Es gebe derzeit sehr viele Anträge, die oft zeitraubend in Einzelverhandlungen bearbeitet werden und die wegen gesetzlicher Neuerungen aufwändiger zu prüfen seien.
Personalengpässe beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe verzögerten die Verhandlungen zusätzlich - die Behörde sitzt stellvertretend für die Sozialämter mit am Tisch. „Die gute Nachricht ist, dass aktuell die Zahl der rückständigen Verhandlungen sinkt“, so ein Sprecher des Verbandes der Ersatzkassen in NRW. „Wir arbeiten die Rückstände unsererseits mit hoher Priorität ab.“
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe gibt zu, dass Pflegeheime in Einzelfällen bis zu 18 Monate auf Bescheide über Investitionskosten warten müssen. Er nennt den akuten Fachkräftemangel auch im öffentlichen Dienst und gesetzliche Neuerungen als Gründe. Widersprüche und Gerichtsentscheidungen verzögerten das Verfahren zusätzlich.
Man schreibe mit Nachdruck offene Stellen aus, sei aber zuletzt mehrfach weniger erfolgreich gewesen, so der LWL. „Aktuell werden sämtliche organisatorischen und personalwirtschaftlichen Möglichkeiten bewegt, die kurzfristig, aber auch dauerhaft zu einer Besserung der Situation führen können“, teilt ein Sprecher dieser Redaktion mit. Eine spürbare Entspannung sei aber erst nach und nach bis zum vierten Quartal zu erwarten.
Mehr Informationen rund um das Thema Alten- und Langzeitpflege
- Wann zahlen Angehörige fürs Pflegeheim - und muss ich Omas Taschengeld zurückgeben?
- Wie viele Rentenpunkte gibt es für pflegende Angehörige?
- Pflegezeit: Darf mir mein Chef in der Auszeit kündigen?
- Bürgen, Kaution, Schuldbeitritt: Was kostet der Heimplatz?
- Das Pflegeheim geht pleite: Diese Rechte haben Bewohner