Essen. Besorgt blicken Pflegeheimträger aus dem Ruhrgebiet auf die Corona-Fallzahlen. In schärferen Besuchsregeln sehen sie hohes Konfliktpotenzial.

Besorgt blicken Pflegeheimbetreiber aus NRW auf die steigenden Corona-Infektionszahlen. Für die trägerübergreifende Arbeitgeberinitiative „Ruhrgebietskonferenz Pflege“ haben Sprecher Ulrich Christofczik, Geschäftsführer des Christophoruswerks in Duisburg, und Bodo de Vries, Vorstand des Johanneswerkes mit 70 Heimen in NRW, mit Stephanie Weltmann über strikte Besuchsregeln und verpuffte Hoffnungen auf neue Fachkräfte gesprochen.

Das NRW-Gesundheitsministerium will erneute Besuchsverbote in Pflegeheimen unbedingt vermeiden. Wie groß ist Ihre Sorge, dass wir daran doch nicht vorbeikommen?

Bodo de Vries: Da kann ich nur für uns als Johanneswerk mit 70 Standorten in ganz NRW sprechen. Eine pauschale Isolation werden wir nicht mehr mitmachen. Die Kollateralschäden sind einfach zu groß. Eine Vereinsamung schadet den Bewohnern und den Angehörigen erheblich. Jede Maßnahme muss angemessen sein.

Ulrich Christofczik: Corona hat uns demütig gemacht. Man kann nur maximal auf Sicht fahren und das tun die Einrichtungen. Ich erlebe, dass Mitarbeiter und auch Bewohner angespannt gelassen sind. Viele der älteren Menschen akzeptieren die jetzigen Maßnahmen. Das wird sich ändern, sollte es zu Schließungen oder Verschärfungen kommen.

Die anfangs sehr strikten Regeln haben für Konflikte zwischen Familien und Heimen gesorgt. Droht das wieder?

Christofczik: Das wird wieder hochkommen und diesmal sicherlich sogar stärker. Ich glaube nicht, dass Angehörige und Bewohner eine erneute Schließung mitmachen würden. Insgesamt sind Akzeptanz und Verständnis für bestimmte Schutzmaßnahmen ja gesunken. Das kommt auch bei uns an. Selbst wenn nur die Besuchsregeln wieder verschärft werden, wird es zu Konflikten kommen. Ganz ehrlich, was sagen Sie einer Bewohnerin, die Schutzmaßnahmen damit infrage stellt, dass sie vielleicht nur noch ein Jahr zu leben hat?

Ulrich Christofczik, Vorstand des Christophoruswerk mit Sitz in Duisburg.
Ulrich Christofczik, Vorstand des Christophoruswerk mit Sitz in Duisburg. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

Sind die zugesagten Schnelltests eine gute Versicherung?

De Vries: Die große Verbesserung ist, dass wir die Tests selbst in den Einrichtungen vornehmen können. Heute erleben wir ja ein regelrechtes Wirrwarr! Ein Praxisbeispiel: In einem unserer Häuser im Kreis Recklinghausen ist ein Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden. Auch nach fünf Tagen hat das Gesundheitsamt nicht unsere anderen Mitarbeiter und Bewohner getestet. Das ist unzumutbar. In anderen Städten klappt es besser, der Flickenteppich an einzelnen Teststrategien der Gesundheitsämter ist aber desolat.

Christofczik: Die Tests sind eine Pseudoversicherung, eine Momentaufnahme, aber immerhin ein Fortschritt. Wir brauchen sie aber auch schnell. Wenn wir sie im gleichen Tempo bekommen wie die Schutzausrüstung, bringt uns das nicht weiter. Die mussten wir uns letztlich ja sogar selbst besorgen.

Immerhin neue Fachkräfte bekommen Sie bezahlt. Bundesgesundheitsminister Spahn hat vor eineinhalb Jahren 13.000 Fachstellen für die stationäre Pflege finanziert. Wo bleiben die zusätzlichen Kräfte im Revier?

Christofzik: Wir haben bundesweit gerade einmal 2500 Stellen besetzt. Bei uns am Christophoruswerk in Duisburg ist es eine einzige Stelle bei 1400 Mitarbeitern. Es ist nicht nur, dass die Fachkräfte nicht da sind. Das Antragsverfahren ist derart komplex und an unserer Realität vorbeigedacht, dass diese geförderten Stellen nicht attraktiv sind.

Das müssen Sie erklären.

Christofczik: Altenheime sind atmende Systeme. Unser Personalschlüssel richtet sich nach der Pflegebedürftigkeit der Bewohner. Bevor ich eine Spahn-Stelle bekomme, muss ich nachweisen, dass ich keine unbesetzten Stellen habe. Aber: Wenn nach der Bewilligung einer zusätzlichen Stelle fünf schwer pflegebedürftige Bewohner versterben, verliere ich plötzlich den Anspruch auf diese neue Kraft und gerate in Gefahr, dass ich Fördergelder wieder zurückzahlen muss – obwohl ich ja bereits jemanden angestellt habe. Das ist absolut an der Basis vorbeigedacht.

De Vries: Der zweite Grund ist, dass Personalnebenkosten nicht übernommen werden. Das heißt, dass ich für jede bewilligte neue Fachkraft 15 Prozent der Lohnkosten selbst tragen muss. Das ist nicht zu schaffen. Gesundheitsminister Spahn will ja auch Gelder für 20.000 neue Hilfskräfte in der stationären Pflege bereitstellen. Wir hoffen sehr, dass das Verfahren hier vereinfacht wird.

Christofczik: Wobei die neuen Hilfskräfte auch nicht einfach so in die Fläche gebracht werden können. Da haben wir als Heimträger noch viele Hausaufgaben zu machen, wie wir uns organisatorisch so aufstellen, dass die Hilfskräfte auch sinnvoll eingesetzt werden.

Bodo de Vries, Vize-Vorstand des Johanneswerk.
Bodo de Vries, Vize-Vorstand des Johanneswerk. © Eberhard Demtröder | Eberhard Demtröder

Mit Corona haben soziale Berufe Aufwind erhalten. Rechnen Sie mit mehr Nachwuchskräften?

Christofczik: Die Bewerberzahl zum 1. Oktober ist tatsächlich insgesamt gestiegen und das hat sicherlich auch mit Corona zu tun. Man muss aber klar sagen, dass sich die jungen Menschen nicht mehr bei den Pflegediensten und Heimen bewerben, sondern wir uns bei ihnen. Da hilft es nicht, wenn wir die Pflege immer schlecht reden. Tatsächlich verdient man hier in unserer Region in kaum einem Ausbildungsberuf so gut wie in der Pflege und die Übernahmechancen sind wohl nirgends so aussichtsreich. In der Pflege hat sich viel getan.

De Vries: Beim Aus- und Neubau von Häusern setzt inzwischen das fehlende Personal unser Limit. Wir haben das 2019 erlebt, als wir eine stationäre Einrichtung erweitern wollen. Es ging um 20 Plätze, für die wir längst Bewohner hatten, die wir aber nicht schaffen konnten, weil uns das Personal fehlte. Das war ein Aha-Erlebnis. Gerade im ambulanten Bereich ist die Suche sehr schwierig. Es ist ja auch nicht jeder geeignet, in so einem privaten häuslichen Umfeld zu arbeiten. Und die bisherigen Förderprogramme lassen die Ambulanten außen vor.

Der Gesundheitsminister will Heimbewohner auch entlasten und Zuzahlungen beschränken. Ist das für die Arbeitgeber problematisch?

De Vries: Sein Schritt geht in die richtige Richtung. Trotzdem wird die Wirkung bestenfalls in der Zukunft zu sehen sein. Spahn will die Eigenanteile für pflegerische Leistungen auf 700 Euro für drei Jahre festlegen. Acht Bundesländer liegen derzeit aber unter dieser Grenze, dort profitieren die Bewohner also frühestens, wenn Löhne steigen. Nötig wäre eine Grenze von 500 Euro gewesen.

In NRW profitieren Bewohner stärker.

De Vries: In NRW liegt der Eigenanteil für pflegerische Leistungen bei 818 Euro. In drei Jahren sparen Bewohner also 4248 Euro. Aber: Nach drei Jahren ist der Großteil unserer Bewohner bereits verstorben. Und die pflegerischen Kosten machen auch nur 38 Prozent dessen aus, was ein Pflegebedürftiger dazuzahlen muss. Und wieder sind die ambulanten Bereiche außen vor. Auch hier steigen Eigenanteile der Pflegebedürftigen, daran geht Spahn aber nicht.

Christofczik: Unser Träger hat 1000 stationäre Plätze in Duisburg, davon sind 86 Prozent keine Selbstzahler mehr. Pflege bleibt auch mit Spahns Vorstoß ein Armutsrisiko. Über 20 Jahren sind Reformen in der Pflege verschlafen worden. Spahn reformiert, das muss man anerkennen. Aber das hier ist nur ein Reförmchen.