Bochum. Im Stadion an der Castroper bricht Rainer Lyding zusammen, droht zu verbluten. Warum der Bochumer Rentner großes Glück hatte.

Was hat er mit seinem Verein nicht schon gefiebert, gefeiert und gelitten. Seit 40 Jahren ist Rainer Lyding, 75, Fan des VfL Bochum, bei jedem Spiel mit vollem Herzen dabei. Am 27. Spieltag der gerade beendeten Bundesliga-Saison hätte ihn das beinahe sein Leben gekostet.

Ostersonntag, 31. März, 19.30 Uhr. Im Stadion an der Castroper wird das Spiel gegen Darmstadt angepfiffen. Philipp Hofmann trifft zweimal für die Richtigen. Dann schießt Darmstadt zwei Tore, das letzte fällt in der 79. Minute. Rainer Lyding verfolgt in Block A, Reihe 29, das Geschehen; an der Seite seiner Tochter. Elf Wochen später erinnert sich der Rentner, wie gut die Stimmung zunächst ist. Wie er sich dann ärgert über seinen VfL, der erneut den sicher geglaubten Sieg zu verspielen droht – und was dann passiert, kurz vor dem Abpfiff: „Ein Angriff, eine letzte Chance für uns. Alle springen auf. Ich mit.“

„Ich konnte nicht mehr denken, der Schmerz hat alles überlagert“

Dann bricht er zusammen, verspürt einen „unwahrscheinlichen“ Druck auf Brust und Rücken, einen „übermächtigen“ Schmerz. Sanitäter eilen zu ihm, auch Ärzte. Lyding klammert sich mit aller Kraft an einen der Ersthelfer, hört seine Tochter schreien, unfähig zu begreifen. „Ich konnte nicht mehr denken, der Schmerz hat alles überlagert.“ Sechs Mann tragen ihn zum Rettungswagen, der bringt ihn ins nächstgelegene Krankenhaus.

Rainer Lyding zwischen seinen Ärzten Peter-Lukas Haldenwang (l.) und Justus Strauch. Die beiden haben ihm ein Anschauungsexemplar des Endostents mitgebracht, der seit Ostern seine Aortawand verstärkt.
Rainer Lyding zwischen seinen Ärzten Peter-Lukas Haldenwang (l.) und Justus Strauch. Die beiden haben ihm ein Anschauungsexemplar des Endostents mitgebracht, der seit Ostern seine Aortawand verstärkt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

In der Notaufnahme zeigt sich: Im Brustkorb des früheren Mess- und Regelmechanikers ist die Hauptschlagader, die thorakale Aorta, gerissen, dicht am Herzen. Der Patient muss sofort operiert werden. Man verlegt ihn dafür ins nahe Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum Bergmannsheil, dessen Hybrid-OP-Saal ideale Bedingungen für den schwierigen Eingriff bietet, wo spezialisierte Herz-Thorax-Chirurgen arbeiten, wo es Herz-Lungen-Maschinen gibt.

Not-Operation im Hybrid-Saal

Privatdozent Peter-Lukas Haldenwang, Leiter der „thorakalen endovaskulären Aortentherapie“ (TEVAR), ist an diesem Ostersonntag der diensthabende Oberarzt. „Der stechende, Dolchstoß-artige Schmerz heftigster Intensität“, den Lyding auch ihm schildert, sei das typischste Symptom einer Aortendissektion, erklärt er. Im konkreten Fall erkennt er auf „Typ B“, Lyding hat Glück im Unglück. Die Letalität einer solchen Verletzung liegt bei 20 bis 29 Prozent, es stirbt „nur“ jeder fünfte daran. Allerdings kann aus Typ B rasch Typ A werden. Es drohen Herzinfarkt, Schlaganfall oder Querschnittslähmung. „Die größte akute Gefahr für Herrn Lyding war ein Pleura-Erguss, dass er verblutet, weil Blut aus der Gefäßwand austritt“, erklärt Prof. Justus Strauch, Direktor der Klinik für Herz-Thorax-Chirurgie im Bergmannsheil. Das Herz pumpt ja weiter mit hohem Druck – und Lyding nimmt ein Medikament, das das Blut verdünnt.

Peter-Lukas Haldenwang steht am Mittwoch, den 23. Juni 2021 im Bergmannsheil Krankenhaus in Bochum. / PortraitFoto: Kim Kanert / FUNKE Foto Services

„„Der stechende, Dolchstoß-artige Schmerz heftigster Intensität ist das typischste Symptom einer Aortendissektion.““

PD Peter-Lukas Haldenwang
Oberarzt, Universitätsklinikum Bergmannsheil Bochum

Noch in der Nacht zu Ostermontag wird operiert, im Hybrid-Saal: hygienisch ausgestattet für Eingriffe auch im geöffneten Brustkorb, technisch wie ein Herz-Katheter-Labor samt mobilem Röntgen-Gerät, das um den Patienten herum gefahren werden kann. Haldenwang punktiert ein Gefäß in Lydings Leiste, schiebt darüber erst einen weichen, dann einen harten Draht vor bis zur Aortenklappe direkt am Herzen; führt darüber eine „Schleuse“ in die Aorta ein, „so dick wie ein Kuli“. Darin steckt die zusammengefaltete Prothese, die Lydings Leben retten soll; ein sogenannter Endostent. 20 Zentimeter lang, „Bratwurst-dick“, gewebt aus einem Stahl-Textil-Gemisch, das Standardmodell: 9000 Euro teuer.

Gefürchteste Komplikation: Querschnittslähmung

Der spannendste Moment der Operation ist die „Freisetzung“, die Entfaltung des Stents. „Danach kriegt man ihn nicht mehr raus“, erläutert Strauch. Verdreht sich die Prothese bei der Freisetzung oder kommt sie falsch zu liegen und sperrt Gefäße ab, die das Rückenmark versorgen, drohe eine „spinale Ischämie“ und in der Folge: eine Querschnitt-Lähmung. Bei Rainer Lyding geht alles gut. Um sieben Uhr an diesem Ostermontag bringt man ihn auf die Intensivstation. Seine Frau wartet dort schon auf ihn, sie hat es zu Hause nicht mehr ausgehalten.

Die Prothese in Rainer Lydings Aorta (hell): Deutlich zu erkennen sind die „Achtermarken“, die zackenförmigen Drähte im Stent (oben). Sie dienen dem Chirurgen bei der Operation auch zur Orientierung, ob die Prothese „sitzt“.
Foto: Bergmannsheil
Die Prothese in Rainer Lydings Aorta (hell): Deutlich zu erkennen sind die „Achtermarken“, die zackenförmigen Drähte im Stent (oben). Sie dienen dem Chirurgen bei der Operation auch zur Orientierung, ob die Prothese „sitzt“. Foto: Bergmannsheil

Die sogenannte „TEVAR“-Operationstechnik, heute „Erste-Wahl-Therapie“, sei bereits in den 1960er-Jahren „von den Russen erfunden“ worden, erzählt Haldenwang – jahrzehntelang in der Zunft aber als „Hokuspokus“ abgetan worden. Heute macht er jährlich 30 solcher Operationen. Er schwärmt von dieser schwierigen Technik, nennt sie „sehr sicher“, weitaus risikoärmer als die alternative offene OP. Aber er erzählt auch, dass er den gefürchteten Querschnitt schon erlebt habe, Anfang des Jahres: „Ein junger Mann, der kann jetzt die Beine nicht mehr bewegen. Das tut weh …“

Hauptrisikofaktor für Aortenriss: Bluthochdruck

Als Rainer Lyding am Ostermontag aufwacht, ist der Schmerz verschwunden. Es dauert, bis er wirklich begreift, was ihm passiert ist, der Schock sitzt tief. Doch schon nach zwölf Tagen darf der 75-Jährige wieder heim. Er weiß inzwischen, dass Bluthochdruck (neben familiärer Vorbelastung) Hauptrisikofaktor für einen Aortenriss ist. Er arbeitet dran, den seinen zu senken.

Im Stadion war er seit jenem 31. März nicht mehr. Die Frau hat es verboten. Aus Sorge um sein Leben. „Da wird er doch wieder so emotional“, sagt die 73-Jährige. Die VfL-Mannschaft schickte Genesungswünsche, „alle haben unterschrieben“, erzählt Lyding. Auf dem Sofa daheim hat er die Relegationsspiele gesehen, zusammen mit Freunden, aufmerksam beobachtet von seiner Frau. In der kommenden Saison will der Dauerkartenbesitzer aber wieder vor Ort dabei sein. „Spricht doch nichts dagegen, oder?“, fragt er seinen Arzt. Haldenwang lacht: „Medizinisch nicht …“