Essen. Pessimismus war gestern. In der 100. Klartext-Kolumne ist es der Autor selbst, der nicht alle Tassen im Schrank hat – neben anderen.

Eineurofünfzig! Für eine kleine Kugel Eis! Die Kinder bekommen ein Hörnchen mit je zwei Kugeln, ich entscheide mich für einen Nussbecher. Es ist das erste Eiswageneis in diesem Frühjahr. 15 Euro bitte, sagt der freundliche Italiener. 15 Euro! Dafür bekam ich früher ein Jägerschnitzel mit Pommes und Salat.

Sie lesen in diesem Moment die 100. Klartext-Kolumne. Es gehört zum Markenzeichen meiner Kolumne, Missstände im Hier und Heute zu benennen und zu bewerten. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot, das sich bewusst immer wieder auch des Stilmittels der Polemik bedient. Es liegt in der Natur der Sache, dass das nicht jedem Leser gefällt. Schwarzmalerei wird mir nicht selten vorgeworfen. Man könne dieses ganze Miesepetertum nicht länger ertragen. Auch andere Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion hören solche Vorwürfe. Bringt doch endlich mehr gute Nachrichten!, schallt es ihnen entgegen. Von morgens bis abends mit dem Elend der Welt konfrontiert zu werden – das halte doch keiner aus.

NRW-Check: 13 Prozent für AfD

Befördert unser Journalismus Pessimismus? Und ist der wiederum dafür verantwortlich, dass es uns – dem Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophezeiung folgend – tatsächlich immer schlechter geht? Pessimismus ist nicht zuletzt der Dünger, der destruktive Tendenzen befördert. Querdenker, Klima-Leugner, Putin-Freunde: Das sind selten fröhliche Menschen, die mit Zuversicht in die Zukunft schauen und die die Probleme unserer Zeit, die ja in der Tat nicht einfach sind, nicht als Herausforderungen betrachten können, sondern ausschließlich als Bedrohungen wahrnehmen. 13 Prozent der Wählerinnen und Wähler würden nach unserem jüngsten NRW-Check die AfD wählen. Wenn Sorgen und Ängste in Hass umschlagen, profitieren davon offensichtlich zuerst die Rechtsextremisten.

Ich glaube nicht, dass es auf Dauer funktioniert, alles durch eine rosarote Brille zu betrachten, damit Unschönes schöner aussieht. Es war auch noch nie der Ansatz der WAZ, so zu tun, als gäbe es etwa die unbestrittenen Strukturprobleme des Ruhrgebiets nicht. Wer würde uns das abnehmen? Dafür sind die Menschen, die hier leben, zu sehr bodenständige Realisten. Manches ist gut, manches nicht; man sagt, was Sache ist. Und wenn jemand nicht alle Tassen im Schrank hat, wird auch das klar benannt.

Leere Regale in meinem Schrank

Genau das habe ich in jeder der bislang erschienenen Klartext-Kolumnen getan. Es ist noch nicht lange her, da forderte mich ein Leser umgekehrt auf, ich solle doch mal in meinen eigenen Schrank blicken; da stünden ganze Regale leer.

Als ob ich das nicht wüsste!

Ich denke, wir alle sind auf unsere Weise mehr oder weniger bekloppt. Da mache ich bei mir keine Ausnahme. Auch ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Ich habe nur das Glück, dass es zu meinem schönen Beruf gehört, Ihnen meine Sicht auf die Dinge mitteilen zu dürfen, die, aus Ihrer Perspektive betrachtet, womöglich ganz anders aussehen. Der Meinungspluralismus endet bei mir nur da, wo Menschen eben diesen Meinungspluralismus nicht gelten lassen oder abschaffen wollen. Und wenn ich solchen Leuten vorhalte, sie hätten nicht alle Tassen im Schrank, dann dürfen Sie sich das sonst implizierte Augenzwinkern auch einmal wegdenken. Dann meine ich das ganz ernst.

Jiddische Begriffe helfen

Übrigens kommt der Spruch aus dem Jiddischen und ist auf den Begriff „toschia“ für Verstand oder Klugheit zurückzuführen. Aus „toschia“ wurde dann irgendwann, falsch übersetzt, die Tasse. Auch der Ausdruck „trübe Tasse“ für einen Langsamdenker (ich würde, gewohnt polemisch, ergänzen: oder Querdenker) kommt daher. Wie in der vom Zentralrat der Juden herausgegebenen „Jüdischen Allgemeinen“ nachzulesen ist, gibt es noch mehr jiddische Begriffe, die helfen, wenn es am deutschen Verstand hapert. So ist die sprichwörtliche Meise, die jemand hat, auf das jiddische „maase/maise“ zurückzuführen, was ursprünglich für eine Erzählung stand, bei Juden aber semantisch erweitert wurde zu unnützem Gerede und Getue.

Das wiederum führt uns nun auf direktem Weg zur Ampelkoalition! Die wird ja inzwischen, wie zuvor die Bundeskanzlerin a.D. („Danke, Merkel!“), für so ziemlich jeden Missstand verantwortlich gemacht, den es zu beklagen gibt – was wiederum an Rudi Carrells Sommer-Song von 1975 erinnert, in dem es zum damaligen Dauerregen ironisch hieß: „Denn schuld daran ist nur die SPD.“ Tradition verpflichtet. Dass SPD, Grüne und FDP allerdings im jiddischen Sinne eine Meise haben, ist kaum zu bestreiten bei all der ampelkoalitionären Kakophonie der vergangenen Monate.

Ampel-Koalition verdirbt Laune

Klima-Krise, Krieg in Europa und in der Folge der Wohlstandsverlust in Deutschland, gemessen an den Eiskugel-Preisen, wären ja schon schlimm genug. Wenn aber dann noch das Gefühl dazu kommt, von einer scheinbar oder anscheinend (das ist ein sprachliches Gegensatz-Paar!) stümperhaft agierenden Koalition regiert zu werden, dann erklimmen die Pessimismus-Werte neue Rekorde. Und das wiederum bringt die Demokratie in Gefahr, weil mit der AfD eine Partei wächst, die mit unserem Meinungspluralismus am liebsten kurzen Prozess machen würde. Wer anders ist und anders denkt, der ist dann plötzlich kein (guter) Deutscher mehr.

Vielleicht sollten wir uns mal wieder verstärkt an die eigene Nase fassen. Könnte es sein, dass die Zerstrittenheit der Ampelkoalition nur das Spiegelbild einer Gesellschaft ist, in der Hetze und gegenseitige Beleidigungen den gesitteten Meinungsstreit abgelöst haben? Und könnte es sein, dass wir statt einer rosaroten bevorzugt eine dunkelgraue Brille aufsetzen, in der alle Züge der Deutschen Bahn zu spät kommen, wir die Digitalisierung komplett verschlafen und deutsche Ingenieurskunst nichts mehr wert ist? Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt – aber kaum jemandem geht es so schlecht wie uns. Da stimmt doch etwas nicht. Sind für diese verquere Wahrnehmung wirklich nur die Medien verantwortlich, wir „bösen Journalisten“?

Was im Ruhrgebiet gelingt

Die WAZ jedenfalls nimmt für sich in Anspruch, auch und gerade Gelingendes herauszustellen. Wie oft schon haben wir darüber berichtet, wie herausragend die Aussichten darauf sind, dass das Ruhrgebiet nach dem Ende der Kohleförderung das Innovationszentrum in Europa für die Entwicklung klimaneutraler Industrieprozesse werden könnte. Man denke nur an die Vision vom grünen Stahl. Wie oft haben wir über die Emschergenossenschaft berichtet, die in beispielloser Weise für Renaturierung und Nachhaltigkeit steht. Sagen, was Sache ist: Auch das gehört dazu.

Der Niedergang des deutschen Fußballs sei ein Zeichen für den Niedergang der ganzen Nation, hieß es vor einigen Monaten. Ich will aufgrund der fehlenden Tassen in meinem Schrank nicht ausschließen, dass ich so einen Quatsch auch schon geschrieben habe. Nun aber hat die deutsche Nationalmannschaft vor der EM im eigenen Land wieder positive Ausrufezeichen gesetzt. Und die deutschen Bundesliga-Mannschaften stellen sich in den europäischen Wettbewerben aktuell auch nicht doof an.

Grund zum Optimismus?

Es gibt also, sollte der Fußball wirklich ein Indikator für Größeres sein, Grund zum Optimismus! Auch wenn die Kugel Eis einsfünfzig kostet oder sogar mehr (hier ein beispielhafter Bericht aus Bottrop). Es gibt Schlimmeres . . . Obwohl?!

Schalom!

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