Essen. Der kleine Stadtteil Mülheim-Raadt wird zum Symbol für eine verfehlte Flüchtlingspolitik auf Kosten der Anwohner. Lange geht das nicht mehr gut.

„Grundsätzlich bezugsfertig“ und „betriebstauglich“ sei die Flüchtlingsunterkunft, im Amtsdeutsch: „Zentrale Unterbringungseinrichtung“ (ZUE), in Mülheim-Raadt gewesen, rechtfertigt sich die Bezirksregierung Düsseldorf. Wesentliche bauliche Maßnahmen seien erledigt, die Betten seien belegbar, die Küche sei produktionsfähig – man sieht sie förmlich vor sich, wie die grünen Häkchen des emsigen Beamten auf das gräuliche Papier fliegen. Was in der langen Tabelle aber offenbar fehlt oder zumindest fehlte, war der Faktor Mensch. Wer fast 600 Flüchtlinge zentral in einem kleinen 5000-Einwohner-Stadtteil unterbringen will, der braucht mehr als belegbare Betten, damit das funktioniert, der muss vor allem dieses tun: die Bevölkerung rechtzeitig mitnehmen. Es ist traurig und mittelfristig auch gefährlich, dass das immer und immer wieder misslingt.

Die Vorwürfe von einigen Anwohnerinnen und Anwohner sind dementsprechend harsch. Man sei „nie in die Planung miteinbezogen“ worden, heißt es in einem Schreiben eines Anwohners an die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung. Stattdessen sei man „vor vollendete Tatsachen gestellt“ worden. Informationen habe man sich mühsam besorgen müssen, und auf Fragen habe es lange keine Antworten gegeben. Dabei betonen die Anwohner in einer Mail, sie wollten keine Fronten aufbauen, nicht hetzen. Mein Eindruck ist: Da sind besorgte, weil mit einer neuen Situation belastete und auch überrumpelte Bürgerinnen und Bürger unterwegs, die in keiner Weise radikal auftreten, aber ernstgenommen werden müssen, weil es grummelt und gärt.

Mehr Lärm und Müll in Raadt

Von mehr Lärm und Müll ist die Rede, seit die Flüchtlinge in Raadt sind; manche von ihnen tummelten sich in Vorgärten, telefonierten dort laut, nutzten einen Spielplatz als Treffpunkt, tränken Alkohol. 600 Menschen, die keiner Arbeit nachgehen, die aus völlig anderen Kulturkreisen stammen, die zu einem Teil auch traumatisiert sein dürften – diese 600 Menschen machen sich bemerkbar. Dass das die Wohn- und Lebensqualität in einem kleinen Stadtteil nicht gerade erhöht, um es vorsichtig zu formulieren, ist doch sonnenklar.

Wer immer das Gegenteil behauptet und in sozialen Netzwerken die besorgten Bürgerinnen und Bürger pauschal als ausländerfeindlich abstempelt, hat – im Klartext – schlicht nicht alle Tassen im Schrank.

Immerhin reagieren die Behörden, reagiert die Politik. Im Rathaus hat man es verstanden, in der Bezirksregierung auch. Man will jetzt regelmäßig mit den Anwohnern sprechen und ihre Sorgen und Nöte aufgreifen; ein Quartiersmanager soll zudem eingesetzt werden, „kurzfristig“, wie es heißt. Nachdem zwei Flüchtlinge einer Straftat bezichtigt wurden, was sich jedoch nach Angaben der Polizei nicht bestätigen ließ, mussten ein Syrer und eine Palästinenserin Mülheim jetzt vorsorglich verlassen.

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Die CDU-geführte NRW-Landesregierung will sich derweil um eine bessere Akzeptanz bei zentralen Großeinrichtungen vor Ort bemühen, die sie im Hinblick auf die Asylverfahrens-Bürokratie und die Organisation von Integrationskursen, Kinderbetreuung, Sozialprogrammen etc. nach eigener Aussage anfangs benötigt, und fordert im altbekannten Schwarze-Peter-Spiel vom Bund mehr Mittel für die Integrationsarbeit vor Ort.

300-Plätze-Unterkunft in Hattingen

Vielleicht sollte die Landesregierung lieber mal mit den eigenen Leuten in den Kommunen sprechen, zum Beispiel mit dem CDU-Partei- und -Fraktionschef in Hattingen, Gerhard Nörenberg. „Die zentrale Unterbringung von Geflüchteten schafft keine Lösung, sondern bringt weitere Probleme mit sich“, sagte er bereits vor Monaten mit Blick auf eine geplante 300-Plätze-Unterkunft auf einem Acker gegenüber eines Schulzentrums in Holthausen. Auch hier stellt die Stadt offenbar bauliche Aspekte in den Vordergrund, ohne sich ausreichend um das Soziale zu kümmern.

Und die Bundespolitik? Die diskutiert hitzig über den Vorstoß der CDU, das deutsche Asylrecht in der jetzigen, grundgesetzlich garantierten Form komplett abzuschaffen – als ob das rechtlich überhaupt möglich und politisch durchsetzbar wäre und den Menschen in Mülheim, Hattingen und Co. in irgendeiner Weise eine realistische Perspektive böte.

Sommer- oder Umfrageloch?

Nur: Auseinandersetzen muss man sich mit dem Vorstoß von Thorsten Frei, immerhin parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und somit rechte Hand von CDU-Chef Friedrich Merz, schon. Das gilt auch für Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock, die die Frei-Forderung mit dem süffisanten Satz abtun wollte: „Offensichtlich sind wir schon im Sommerloch.“ Dabei sollte Baerbock eher auf das Umfrageloch achten, in das ihre Partei gerade fällt, während die rechtsradikale AfD von einem Hoch zum nächsten springt.

Frei liegt nämlich erst einmal richtig, wenn er die Sorgen und Nöte der Menschen in Deutschland aufgreift, die sich von dem Flüchtlingszustrom überfordert fühlen. Richtig liegt er auch mit der Analyse, dass die bestehende Regelung Alte, Schwache und Arme sowie Frauen und Kinder benachteiligt, weil sie sich „nicht auf den Weg durch die Wüsten Afrikas und über das Mittelmeer“ begeben, wie er sagt, um bei uns einen Asylantrag zu stellen. Er will darum das individuelle Recht auf Asyl durch eine Kontingentlösung ersetzen. Im Klartext: Würde sich Deutschland beispielsweise verpflichten, 100.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen, müsste der 100.001. zurückgewiesen werden – ohne sein Schicksal weiter zu berücksichtigen.

Thorsen-Frei-Vorstoß ist unmöglich

Das aber ist unmöglich. „Politisch verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16 des Grundgesetzes. Dieser Satz gehört zum Selbstverständnis der Bundesrepublik, zu ihrem moralisch-ethischen Fundament nach den Erfahrungen in der Nazi-Zeit, als Deutschland unschuldige Menschen verfolgte, die vielfach verzweifelt auf der Suche nach Asyl waren. Es gibt absehbar keine Zweidrittelmehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes. Mehr noch: Wenn man unser Asylrecht als Teil der in Artikel 1 garantierten Menschenwürde begreift, dann würde seine Abschaffung gänzlich unmöglich sein.

Hinzu kommt das Völkerrecht. In der Genfer Konvention und in der Europäischen Menschenrechtskonvention ist klar geregelt, dass kein Staat jemanden dorthin zurückweisen darf, wo sein Leben aus politischen Gründen bedroht ist. Das aber wäre ja die Folge von festen Aufnahme-Kontingenten.

Es klappert die AfD-Mühle

Thorsten Frei weiß das natürlich. Er macht einen Vorschlag, um der AfD das Wasser abzugraben, dabei ist die Idee im Gegenteil Wasser auf die Mühle der scheinbaren „Alternative für Deutschland“. Bislang Undenkbares wird denkbar; eine bisherige Partei der Mitte, die CDU, bekommt einen deutlichen Rechtsdrall. Das dürfe den Radikalen gefallen, die sich als „Original“ verkaufen können, denen die Konservativen nun, wenn auch nicht in der Sprache, so doch zu einem Teil in der Sache, nacheifern. Am Ende werden Erwartungen enttäuscht, und von dem Frust profitiert wer? Sie kennen die Antwort.

In Mülheim denken Wohlmeinende inzwischen über ein gemeinsames Sportfest nach, bei dem sich Anwohner und Flüchtlinge kennenlernen, besser verstehen können. Es gibt sie noch: liberale Bürgerinnen und Bürger, die grundsätzlich aufgeschlossen sind, die sich darauf einlassen, dass Hilfe notwendig ist und allen etwas abverlangt. Noch.

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