Ruhrgebiet. Die Familie? Ein Ort? Was Heimat ausmacht, ist schwer zu definieren, sagt die NRW-Heimatministerin. Warum das Ruhrgebiet eine Besonderheit ist.
„Heimat ist uns wichtiger geworden“, sagt NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU) mit Blick auf das vergangene Jahr. Doch was ist das eigentlich: „Heimat“? Der Ort der Kindheit? Die Kneipe nebenan? Das Lieblingsessen von Mama? Oder eine lange Umarmung nach einem anstrengenden Arbeitstag? Zum Auftakt unserer WAZ-Serie „Ruhrgebiet – Meine Heimat“ erklärt die Kamenerin, weshalb es eigentlich gar keine Definition gibt – und warum Heimat im Ruhrgebiet trotzdem etwas besonderes ist.
Frau Scharrenbach, was ist eigentlich Heimat?
Der Begriff Heimat im Deutschen ist einzigartig. Es gibt in den anderen Sprachen eigentlich nichts Vergleichbares. Heimat beschreibt deshalb die unsichtbaren Wurzeln, die ein Mensch in sich trägt und die – ganz wichtig – ein gutes Fundament bieten. Ich glaube, so kann man Heimat ganz gut definieren. Letztlich beschreibt jede und jeder Heimat für sich selbst. Heimat ist also ganz individuell.
Ist Heimat also vielmehr ein Gefühl als ein Ort?
Es ist viel Gefühl, das ist klar. Wenn ich unterwegs bin und die Menschen frage: „Was ist Heimat für Sie?“, dann sagt der eine „Heimat ist für mich meine Stadt“ oder „Heimat ist meine Familie“. Es gibt auch Personen, die sagen, Heimat ist da, wo ich verstanden werde, wo ich aber auch verstehe. Deswegen ist es etwas ganz Bodenständiges, was aus Sicht der Landesregierung eben auch dazu beiträgt, dass man gut mit Veränderung umgehen kann.
Sie sagen, Heimat ist ein offener Begriff und kein politischer Zustand. Was meinen Sie damit?
Heimat ist ein inklusiver Begriff. Er schließt alle ein. Der Mensch steht im Mittelpunkt – egal, welche Hautfarbe, welche Religion, welches Alter oder welches Geschlecht er hat. Heimat ist in Nordrhein-Westfalen ein weltoffener Begriff, weil Heimat auch einlädt, Heimat zu erleben oder hier anzukommen, heimisch zu werden. Heimat ist etwas, das Menschen in einer Gesellschaft miteinander verbindet, weil es auch Werte mit sich bringt, die Menschen miteinander teilen.
Was bedeutet Heimat speziell für die Menschen im Ruhrgebiet?
Heimat im Ruhrgebiet ist ganz eng verbunden mit Montan und Stahl. Unter Tage mussten sich die Bergleute aufeinander verlassen können – und das prägt die Gesellschaft bis heute: Ein starkes Empfinden für Gerechtigkeit, Zusammenhalt und dafür, sich gegenseitig zu helfen. Deshalb sind die Menschen im Ruhrgebiet sehr regionsverbunden.
Aber, und das ist im Ruhrgebiet das Besondere, wir haben im Jahr 2018 das Ende des Steinkohlebergbaus gehabt. Das war eine Zäsur, ist es immer noch. Und dieses Gefühl, dieses Verständnis von Heimat in der Gegenwart weiterzuleben und in die Zukunft zu tragen, das ist aus meiner Sicht das, was Heimat ausmacht.
In Nordrhein-Westfalen leben viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Wie sieht eine Heimat aus, die Zugewanderte und Alteingesessene zusammenbringt?
Es gibt einen berühmten Spruch, der sagt: „Heimat weiß man dann zu schätzen, wenn man sie verloren hat.“ Sie wird dann umso bedeutender. Die Herausforderung, wenn Sie als Mensch in ein fremdes Land kommen, ist natürlich immer, die Kultur und das Leben dort nachzuvollziehen, die Verständnisse wahrzunehmen. Für einen Menschen mit Einwanderungsgeschichte ist vielleicht ein anderer Ort wichtig, ganz häufig ist es auch die eigene Familie, wenn man in einem fremden Land ist. Sich dann aber für die Stadtgesellschaft zu öffnen und zu sagen „Ich bin jetzt hier und ich gestalte diese Heimat mit, weil ich hier auch bleibe“, das darf und sollte auch der Anspruch sein.
Ankommen heißt aber auch, dass es Menschen gibt, die Menschen einladen, das Leben hier zu entdecken. Und das erfüllen ganz viele Menschen im Ruhrgebiet im Ehrenamt. Das hat aber auch während der Zuwanderungszeit im Ruhrgebiet immer gut funktioniert, insbesondere bei Montan und Stahl, weil in unserer Gesellschaft das Ankommen auch mit Arbeit verbunden ist.
Was entgegnen Sie Kritikern, die sagen, Heimat sei ein ausgrenzendes Konzept?
Dass wir den Begriff anders leben. Wir verstehen ihn eben auch anders. Wir haben seit 2017 das Ministerium für Heimat in Nordrhein-Westfalen – und ich komme viel rum im Land, begegne vielen Bürgerinnen und Bürgern. Da ist dieses Verständnis genauso. Heimat ist in Nordrhein-Westfalen weltoffen und einladend. Deswegen ist diese Kritik ganz weit weg von der Lebensrealität.
„Ruhrgebiet – meine Heimat“: Alle Folgen finden Sie hier
Dieser Text ist Teil unserer WAZ-Serie „Ruhrgebiet – Meine Heimat“, in der wir Menschen vorstellen, die sich dem Ruhrgebiet auf eine besondere Weise verbunden fühlen. Alle Geschichten finden Sie hier:NRW-Heimatministerin: Warum „Heimat“ im Ruhrgebiet besonders ist„Ein Stück Heimat“: Kumpel aus Essen bauen Möbel mit KohleUrlaub in der Heimat: „Das Ruhrgebiet hat einiges zu bieten“Die Bude als Heimat: Wie ein Duisburger seinen Traum lebtZugewanderte aus Osteuropa: „Wir leben hier ein gutes Leben“WAZ-Leserinnen und Leser: „Diese Idylle gibt es kaum noch“
Hat sich unser Verständnis von Heimat im vergangenen Jahr verändert? Ist uns Heimat wichtiger geworden?
Ja, absolut. Heimat ist in der Tat wichtiger geworden. Ganz vieles von dem, was vor der Pandemie selbstverständlich war, konnte nicht mehr stattfinden. Die Menschen haben in den letzten Monaten ungeheuer viel entbehrt, ob es das Vereinsleben ist, ob das Feste sind, ob das Kultur ist, das Zusammenkommen, das zusammen Lachen oder zusammen Weinen. Ich merke es ganz häufig, dass Bürgerinnen und Bürger sagen: „Das fehlt uns so sehr und das ist unsere Heimat.“
Sind wir in der Krise auch stärker zusammengewachsen?
Zu Beginn der Pandemie war das „Man hilft sich“ unheimlich stark. Man hat sich geholfen, für die ältere Dame eingekauft, die nebenan alleine wohnt. Es wurden Bring-Services organisiert und man hat Menschen in Altenheimen Briefe geschrieben, weil man wusste, sie dürfen nicht raus und Familie darf nicht rein. Dann waren wir vergangenes Jahr im Sommer wieder so weit, dass Feste haben stattfinden können. Großes Aufatmen in der Gesellschaft, das hat man auch gemerkt. Und das wird in diesem Jahr meines Erachtens genauso sein.
Also ja, die Pandemie hat mindestens zwei positive Vorteile gebracht. Zum einen hat sie das Verständnis für die eigene Heimat noch einmal bestärkt, auch vielleicht dafür gesorgt, dass wir unser eigenes Land noch einmal neu entdecken. Und zum anderen hat sie den Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt, die Bedeutung dessen, was wir aneinander haben.
Zum Schluss: Was ist für Sie ganz persönlich Heimat?
Heimat ist für mich meine Heimatstadt Kamen. Da bin ich groß geworden, da bin ich aufgewachsen, meine Familie, die Freunde, die alle da sind, das Vereinsleben, woran ich ja gerade auch nicht teilnehmen kann. Das ist meine Heimat.
Heimatförderung: 150 Millionen bis 2022
■ Mit den fünf Elementen Heimat-Scheck, Heimat-Preis, Heimat-Werkstatt, Heimat-Fonds und Heimat-Zeugnis will die Landesregierung mit rund 150 Millionen Euro bis 2022 die Gestaltung der Heimat vor Ort fördern.
■ Allein im Ruhrgebiet sind seit dem Start im August 2018 bis einschließlich 2020 501 Anträge auf Heimatförderung für Projekte und Initiativen bewilligt worden. Das entspricht einem Fördervolumen von insgesamt rund 8,75 Millionen Euro.