Ruhrgebiet. In Lünen wurden am Sonntag Schornstein, Kühlturm und Kesselhaus eines alten Kraftwerks gesprengt. Einen solchen Wumms gab es bundesweit noch nie.
Das Kraftwerk klappt zusammen, genau wie sollte. Der Schornstein nach Westen, das Kesselhaus nach vorn, der Kühlturm in sich. Von „Nervenkitzel“ hat der Chef des Abbruch-Unternehmens zuvor gesprochen, der Sprengmeister hatte „eine schlechte Nacht“. Aber die größte gewollte Gebäude-Sprengung, die Deutschland je erlebt hat, läuft nach Plan: Am Sonntagmittag um kurz vor Zwölf ist das alte Steag-Kraftwerk in Lünen Geschichte – also, fast.
Man sagt das so einfach: dem Erdboden gleichgemacht. Klingt gut, stimmt aber nicht: Als die rote Staubwolke sich zur Mittagszeit verzieht, ragen Stahlskelette in die Höhe, wundersam ineinander verbogene Träger, ein Rest des Kühlturms steht wie von riesigen Zähnen angebissen auf seinen grauen Stelzen. Was vom Kraftwerk übrigblieb: 180.000 Tonnen Bauschutt, wird jetzt fotografiert von Fahrradfahrern, bestaunt von Kindern, Lünen traut sich nach vier bangen Stunden wieder aus dem Haus.
Ehemaliger Betriebsrat trauert: „Es tut schon weh“
„Verrückt“, sagt Ralf Melis. Da steht der 60-Jährige, Hunderte Meter entfernt und doch so nah dran wie erlaubt; er hat gerade seinen alten Arbeitsplatz fallen sehen. Und „noch vor Augen“, was da für immer zerstört ist, von 420 Kilogramm Sprengstoff aus 2132 Bohrlöchern in die Knie gezwungen: Im Kesselhaus hat er noch selbst gelernt. 41 Jahre war der Schlosser im Kraftwerk im Dienst, bis zu dessen Ende 2018, da war er der oberste Betriebsrat. „Wir sind da alle groß geworden. Wir waren eine Riesenfamilie.“ Die auseinandergerissen wurde, weil Deutschland von der Kohle Abschied nimmt. Die Steag lieferte zum Schluss aus Lünen vor allem Strom für die Bahn.
Und am Sonntag ein letztes großes Schauspiel. Monate hatte die Abbruchfirma Hagedorn vorbereitet, gebohrt, sondiert, gemessen; das Kesselhaus stand schon nur noch auf seinen nötigsten Stützen. „Wie beim Mikado“, sagt Chef Thomas Hagedorn, es darf nichts zu früh umfallen. Am Sonntag rückt das Unternehmen mit einer Event-Firma an und einem „Event-WC“ – dabei gibt es gar kein Event-Publikum. Die Menschen dürfen nur im Internet zuschauen, 26 Anwohner werden zuvor evakuiert. Mehr sind sie nicht, Lünen hat hier ein Gewerbegebiet, die Nachbarn sind Maler, Dachdecker und ein Stundenhotel mit Zimmern, die „Hollywood“ heißen oder „Orient“.
In einer Minute: „Alles auf den Turm!“
Und eine alte Dame, die vor 40 Jahren im Kraftwerk ihren Mann bei einem Unfall verlor. Sie verdrückt sich ein Tränchen, als der Ingenieur, der zuvor ihr Haus vermessen hat („vorsichtshalber, jeden Riss“, sagt Manfred Kühne), ihr ein „Fresspaket“ bringt. Auch die Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks bekommen so eines. Kuchen ist darin und ein Müsliriegel, Nervennahrung. „Die Leute machen sich Sorgen um ihre Häuser“, weiß Kühne. Draußen fährt jemand von der Bezirksregierung mit dem E-Roller Streife, schauen, ob auch niemand zuhause geblieben ist.
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Um halb elf soll es losgehen, dann um elf, und ganz plötzlich „in einer Minute“. Der Wind fegt eins der 23 Kamerastative um, 45 Journalisten rennen auf ihre Plätze, zwei Signale ertönen, jemand schreit: „Alles auf den Turm!“ Die Bahn, wird Sprengmeister André Schewcow später sagen, habe die Strecke, die gleich am Werksgelände vorbeiführt, früher freigegeben als gedacht.
Ein Knall, ein paar Sekunden, dann knickt der Schornstein in der Mitte ein
Es ist 10.32 Uhr, als ein ohrentäubendes, dumpfes „Krawumm“ in die gespannte Stille dröhnt. Danach passiert einige Sekunden – nichts. Erst später zeigt ein Loch in der Kulisse, dass in diesem Moment der Wäscher der Rauchgasanlage eingestürzt sein muss, aber das, sagt eine Hagedorn-Sprecherin, „hat keiner gesehen“. Dann knickt der 250 Meter hohe Schornstein, aus seiner Mitte fliegen Staub und Steine, es sieht aus wie Feuerqualm und in der Mitte wie eine gigantische Girlande. Zack, zusammengefaltet. Gleich unter der Bruchstelle hat eben noch ein rotes Lämpchen gebrannt. Ein paar Rabenvögel kehren schnell an die Umfallstelle zurück.
Dort ist die grüne Plane am Kesselhaus gerissen, das Gebäude zeigt den nackten Stahl, von Vorarbeiten angefressen. Eine Stunde soll es dauern, bis es weitergeht, „ein paar Drähte fehlen noch“, heißt es, man werde diesmal aber 20 Minuten vorher Bescheid sagen. Dann sind es fünf, da rennt die kleine Menge schon wieder, Sirene, Staub, aber kein Laut. Sie haben das im Physikunterricht ja immer erzählt: dass das Licht schneller sei als der Schall. Der Kühlturm geht sehr gerade in die nicht vorhandenen Knie, von seinen 110 Metern Höhe fehlt ihm schon ein Viertel, da hört man erst den Wumms. Auch beim Kesselhaus ist schon der (Ver-)Fall zu sehen, als es kracht.
Sprengmeister: „Hätte nicht besser laufen können“
„Hätte nicht besser laufen können“, sagt Sprengmeister Schewcow in seinen lehmigen Arbeitsschuhen trocken, sein Chef Thomas Hagedorn strahlt. Mit den Fotos aus den Drohnen habe er „schnell gecheckt“, dass alles in die richtige Richtung gefallen ist; die Ingenieure holen schon die Erschütterungsmessgeräte von den Bahngleisen.
Ralf Melis geht nicht mit den Leuten von der „Deutschen Sprengunion“ feiern, es heißt, es gibt traditionell Bier und Zigarren in der alten Werkstatt. Für den Lüner waren es anstrengende Stunden. „Es tut schon weh“, sagt er. Er wünscht sich jetzt viele neue Industrie-Arbeitsplätze auf dem Gelände, die Abbruchfirma Hagedorn, die es auch entwickelt, hat das versprochen. Melis wohnt drüben, auf der anderen Seite, wo die Zukunft zuschaut: Die Windräder drehen schnell an diesem Sonntag.
Im Sommer geht es dem Rest des Kraftwerks an den Kragen
Die Sprengung, hat Thomas Hagedorn gesagt, sei „ein großes Endspiel“. Obwohl das gar nicht stimmt, das Kraftwerk ist ja noch nicht weg. Es stehen da noch ein zweites Kesselhaus, Schornsteine, eine Menge Stahl – auch alleine sehen sie aus wie ein ganzer Betrieb. Erst im Sommer werden auch sie gesprengt. Was danach noch bleibt, nagen Bagger weg, darunter Deutschlands größter, der im Februar in Lünen vorfuhr. Und dann… geht es bald ja allen Kohlekraftwerken an den Kragen. Irgendwann auch dem zweiten in Lünen, in Sichtweite gleich gegenüber, aus dem es am Sonntag noch unschuldig dampft. (Siehe Seite Wirtschaft.)