Ruhrgebiet. Ein Jahr voller Kontaktbeschränkungen hinterlässt Spuren in den Köpfen vieler Kinder. Wissenschaftler uneins, ob sie dauerhaft geschädigt werden.
Mia kriegst du nicht mehr vor die Tür, oder mit Geschrei und Tränen. Lilli genau so wenig, Klassenkameradin, die einen Kilometer entfernt wohnt. Hannah und Emma, gute Freundinnen, haben sich bis in den zweiten Lockdown hinein viel verabredet - inzwischen nicht mehr. „Soll Emma mal bei uns übernachten?“ - „Weiß nicht.“ - „Wenn das alles vorbei ist, gehst du wieder im Verein turnen?“ - „Keine Lust!“
Wie auch, wenn sie täglich mehrfach auf allen Kanälen hören: Haltet euch fern! Die Dortmunder Grundschulmädchen heißen anders, aber sie stehen auch für andere. Nach einem Jahr voller Kontaktverbote ziehen viele Kinder sich immer weiter zurück. „Wir bestätigen das total“, sagt der Kinderarzt Axel Gerschlauer, Sprecher seiner nordrheinischen Kollegen: „Sie werden immer trauriger, immer stiller. Sie werden immer durchscheinender.“
Hirnforscher: Das natürliche Bedürfnis nach Gemeinsamkeit verschwindet
Der emeritierte Hirnforscher Gerald Hüther bringt es auf diesen polemischen Punkt: Es sei „unbegreiflich, wie es eine Erwachsenengeneration fertigbringt, den Kindern solche Auflagen vorzugeben, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken“. Die kindlichen und jugendlichen Hirne, meint er, veränderten sich bereits, neue Strukturen entstünden, das natürliche Bedürfnis nach Gemeinsamkeit verschwinde - „und damit ihre Lebensfreude“.
Nun ist Hüther in Fachkreisen bekannt für extreme Standpunkte, auch dieser ist wieder umstritten: Aber allein steht er nicht. Nochmals der Kinderarzt Gerschlauer: „Richtig übel ist es für die zwischen 13 und 15 Jahren. Die Teenager sind geliefert. Die brauchen so dringend ihre Gruppen, die Rituale, sich zu spiegeln, das ist so wichtig für sie.“
„Sie trifft niemanden, daddelt höchstens ein bisschen herum“
Der Vater einer 13-Jährigen aus Düsseldorf beschreibt es so: „Sie verwahrlost regelrecht ein bisschen hier zuhause. Sie redet wenig. Manchmal duscht sie erst mittags, wenn ich sie dazu aufgefordert habe. Sie trifft niemanden, daddelt höchstens ein bisschen mit ihren Freundinnen herum. Sie hat auch keine Lust, mit mir spazieren zu gehen.“
Pubertät halt, könnte man sagen. Aber „sie trifft niemanden?“ Bleibt das, wenn Corona vorbei ist, bei vielen die neue Normalität? Man könne nicht abschätzen, wie dauerhaft diese Verhaltensänderungen seien, meint die Professorin Sabine Seehagen, Entwicklungspsychologin der Ruhr-Universität Bochum: „Negative Erfahrungen werfen lange Schatten. Aber in vielen von uns steckt auch ganz viel Widerstandskraft.“
Studie sieht die Gefahr, dass Kinder ihre Lebensfreude verlieren
Wenn Eltern den Eindruck haben, dass ihre Kinder gerade komisch werden, könnten sie zunächst Hilfe und Rat im Internet suchen, so Seehagen: Etwa bei www.familienunterdruck.de, einer niedrigschwelligen Seite von Psychologen und Kinderhilfswerk.
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Es gibt dazu eine repräsentative Studie, die Copsy-Studie aus der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Sie vergleicht das Empfinden von Kindern und Jugendlichen nach dem ersten und dem zweiten Lockdown. Das Ergebnis: Depressive Symptome haben zugenommen, 85 Prozent empfinden Ängste, mehr denn je. „Es besteht die Gefahr, dass vor allem Kinder aus Risikofamilien ihre Motivation und ihre Lebensfreude verlieren.“
Doch auch Seehagen mit ihrem vorsichtigen Optimismus steht nicht allein da. So sieht es Ulrich Kohns, Vorstand der „Ärztlichen Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern“ in Essen: „Die Plastizität der Hirnentwicklung im Kindesalter zeigt immer wieder erstaunliche Fähigkeiten der Erholung und Belastbarkeit, ohne Dauerschäden zu verursachen.“ Das emotionale Wohl der Kinder müsse aber bei jeder Maßnahme bedacht werden.
„Ich habe die große Zuversicht, dass Vieles wieder zurückkehrt“
Ein Jahr jetzt. Und ein paar Monate wird es noch dauern. „Ich mache mir Sorgen, dass alles so weiter geht und nicht mehr aufhört“, sagt eine 14-Jährige aus einer Mädchen-WG in Bottrop. An der „Ärztlichen Beratungsstelle“ in Essen arbeitet auch die Familientherapeutin Ute Kalvelis. Für sie hat die Familie der Kinder zentrale Bedeutung, manche bekämen es gut hin und andere schlecht, ihre Kinder geistig heil durch die Corona-Zeit zu bringen.
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Die Auswirkung der Einschränkungen sei „schwierig zu messen, könnten sich aber bei den nächsten Schuleingangsuntersuchungen offenbaren“. Die aber fielen für das kommende Schuljahr teilweise aus. Aber Kalvelis ist dennoch optimistisch: „Ich habe die große Zuversicht, dass Vieles wieder zurückkehrt.“