Düsseldorf. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer verteidigt im WAZ-Live-Interview ihren umstrittenen Kurs in der Corona-Pandemie.

Kein anderes Regierungsmitglied musste sich zuletzt mehr rechtfertigen als NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer. Die FDP-Politikerin hat mit ihren häufigen Kurswechseln in der Corona-Pandemie viele Eltern, Lehrer und Schüler gegen sich aufgebracht.

Auch im WAZ-Live-Interview stand Gebauer im Kreuzfeuer und stellte sich den kritischen Fragen unserer Leser und von WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock. Sie wollten zum Beispiel von Gebauer wissen, warum sie trotz stark steigender Infektionszahlen so lange am Präsenzunterricht festhielt, warum sie Wechselunterricht zunächst verhinderte und schließlich doch anordnete, warum Zehntklässler in eine zentrale Prüfung müssen und wie die Regierung die Schäden aus einem verkorksten Schuljahr reparieren will.

Zum Widerstand gegen Gebauers zähes Festhalten am Präsenzunterricht:

Yvonne Gebauer: "Ich bin mehr denn je der festen Meinung, dass der Präsenzunterricht die beste Form des Lehrens und Lernens ist. Darum habe ich gesagt, lassen Sie uns so lange wie möglich am Präsenzunterricht festhalten, weil er für die Kinder gut ist und die Lehrerinnen und Lehrer diesen Unterricht besser organisieren können. Ich habe nichts Grundsätzliches gegen Wechselmodelle. Aber es konnte nicht sein, dass sich Kommunen Richtung Wechselunterricht aufmachen, ohne jemals vorher andere Maßnahmen ergriffen zu haben. Dann kam ein Punkt, an dem die Inzidenzzahlen so hoch waren, dass wir gemeinsam in den Wechselunterricht und in den Distanzunterricht gehen mussten.

Zum Vorwurf von Norbert Schlegel aus Essen, die Ministerin stelle Präsenzunterricht vor Gesundheitsschutz:

Gebauer: Ich stelle den Präsenzunterricht nicht vor den Gesundheitsschutz. Es ist eine Abwägung. Wir müssen nicht nur die körperliche Unversehrtheit der Schüler in den Blick nehmen, sondern wir müssen auch sehen, was es für Schülerinnen und Schüler bedeutet, wenn sie ihre Freunde nicht mehr sehen, ihre Peer Group verlieren. Für die Schüler ist vieles weggebrochen, und wir müssen auch an ihr seelisches Wohl denken. Schule gibt Kindern und Jugendlichen Struktur und Halt und ermöglicht ihnen soziale Kontakte.

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Zur unterschiedlichen Qualität von Distanzunterricht (Susanne Döhn kritisiert, dass dafür ein stimmiges Konzept fehle):

Gebauer: Wir haben den Pädagogen Online-Seminare zum Distanzunterricht angeboten, die gut angenommen wurden, und als erstes Land Handreichungen für den Distanzunterricht erstellt. Das wird nicht überall immer 1:1 umgesetzt, auch, weil das mit Dingen zu tun hat, die in der Vergangenheit liegen. Im Jahr 2017 waren gerade einmal 13 Prozent der Schulen an ein leistungsfähiges Netz angeschlossen. Jetzt liegen wir bei über 60 Prozent. Wir haben allen Lehrkräften digitale Endgeräte zur Verfügung gestellt und bedürftigen Schülern Leihgeräte. Aber es ist gleichwohl eine Aufholjagd, und es gibt Qualitätsunterschiede beim digitalen Distanzunterricht. Allerdings muss man auch sagen, dass der Distanzunterricht an Grundschulen nicht nur digital, sondern auch analog laufen kann.

Zu Lüftungsgeräten:

Gebauer: Es gibt zertifizierte Lüfter in den Schulen. Das Land hat dafür ein 50 Millionen Euro-Programm aufgelegt, und die Kommunen haben für 20 Millionen Euro Geräte bestellt. Man muss aber wissen: Ein Luftfiltergerät ersetzt nicht das regelmäßige Lüften, sondern kann das Lüften nur unterstützen.

Zum Vorwurf, die Ministerin informiere Schulen seit einem Jahr immer kurz vor knapp über neue Regeln:

Gebauer: Wir haben mehr als 60 Schulmails verschickt, davon aber nur ganze drei an einem Freitag. Das war mitunter Tatsachen geschuldet, die in Berlin lagen, wenn Entscheidungen zu spät kamen. Einmal haben wir im Land spät entschieden in Bezug auf die vorgezogenen Weihnachtsferien. Alles andere hängt mit Abstimmungsprozessen zusammen und natürlich auch mit der dynamischen Lage. Die Pandemie ist unberechenbar und gibt uns keine großen Spielräume. Daher wird es bei den Informationen nicht immer der Dienstag oder Mittwoch, sondern auch mal der Donnerstag.

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Zu den Gebauers Plänen für sinkende Inzidenzen:

Gebauer: Den Rahmen gibt die Bundesnotbremse vor. Natürlich möchte ich so schnell wie möglich für unsere Schülerinnen und Schüler wieder Präsenzunterricht anbieten. Mit den Tests für Schüler und Lehrer wurde eine weitere Sicherheitsschranke eingezogen. Es gibt inzwischen Studien, die darauf hindeuten, dass die Schulöffnungen den Anstieg der Infektionszahlen gebremst haben könnten: Wir identifizieren mit Tests in den Schulen Infektionen, und alle tragen dort Masken. Wenn wir Schulen schließen, sind die Kinder auf Distanz, und man kann davon ausgehen, dass sie sich trotzdem mit Freunden treffen und vielleicht nicht alle Maske tragen.

Zu den Inzidenzen innerhalb einer Kommune (Sandra Thüner erinnert daran, dass die Inzidenzen kreisweit gelten. Einzelne Städte, die unterhalb der kreisweiten Zahlen liegen, müssen dennoch in den Distanzunterricht):

Gebauer: Wir können da leider nicht differenzieren. Die Inzidenz gilt immer nur für eine kreisfrei Stadt oder einen Kreis. Das sind Bundes-Regelungen, die wie 1:1 umsetzen.

Zu Lernrückständen:

Gebauer: Da gibt es Unterschiede von Schule zu Schule, von Schüler zu Schüler. An manchen Schulen gab es fast keine Quarantäne-Fälle, an anderen viele. Die Pädagogen müssen so bald wie möglich im Präsenzunterricht schauen, wo die Kinder stehen und wie es ihnen geht. Uns stehen 36 Millionen Euro für Ferien- und Lernprogramme zur Verfügung. Zusätzlich erhalten wir vom Bund 220 Millionen Euro für Nachhilfeprogramme. Das Geld ist da. Wenn aber die Pandemie diese Angebote verhindern sollte, weil Sportplätze zu sind, weil sich nur wenige Kinder treffen dürfen, weil Schulen geschlossen bleiben, dann wird es schwer.

Zum Kürzen von Lerninhalten:

Gebauer: Ach, wenn das immer so einfach wäre! Das hat etwas mit schulinternen Lehrplänen zu tun. Wenn wir die Kernlehrpläne verändern würden, wüssten wir erstens nicht, welche Schulen das Thema, das gestrichen wird, schon behandelt haben., und die Schulen müssten die Veränderung in ihren internen Lehrplänen umsetzen. Das bedeutet viel zusätzliche Arbeit. Nun muss man sehen, wie man weiter damit umgeht und Wissenslücken schließen, gerade bei denen die im nächsten Jahr ihre Abschlüsse machen. Erst ist aber zu einfach gedacht und zu kurz gesprungen, Projekt X und Phase Y aus den Lehrplänen herauszunehmen.

Zur Qualität von Schulabschlüssen:

Gebauer: Es gibt Wissenslücken, aber die werden durch etwas anderes kompensiert: Diese Schulabgänger haben ein besonderes Rüstzeug fürs Leben durch ihre Pandemie-Erfahrungen, und ihre Leistung kann man angesichts der vielen Zumutungen nicht genug wertschätzen.

Zur Aussagefähigkeit von Noten ohne Klassenarbeiten (danach fragte die Lehrerin Dorothee Schepers):

Gebauer: Es gibt andere Möglichkeiten der Leistungsbewertung, zum Beispiel Projektarbeit. Ich bin sicher: Die Lehrkräfte haben das Fingerspitzengefühl für die Benotung.

Zum Sitzenbleiben:

Gebauer: Das gibt es in diesem Schuljahr, weil wir mit unserer Erfahrung ein Jahr weiter sind. Der Distanz- wurde dem Präsenzunterricht rechtlich gleichgesetzt. Die Eltern sollen aber stets in die Versetzungsentscheidung mit einbezogen werden.

Zur Kritik am Festhalten an der Zentralen Prüfung für Zehntklässler (ZP10) (eine Frage von Rebecca Flender-Leim, Mathelehrerin):

Gebauer: Wir haben die Auswahlmöglichkeiten für die Schüler erweitert, den Prüfungstermin um neun Tage verschoben, und die Abschlussklassen durften wieder zurück in den Präsenzunterricht.

Zur Verfügbarkeit von Schnelltests:

Gebauer: Von Anfang an waren flächendeckend genügend Tests vorhanden, um alle Schüler zweimal in der Woche testen zu können. Es gab Schulen, die sich in der ersten Woche der Testpflicht entschlossen haben, nicht am Montag zu testen, heißt das nicht, dass die Tests nicht dort waren. Es gab bei 5,5 Millionen Tests, die in der Woche an 6000 Standorte ausgeliefert werden müssen, an der einen oder anderen Stelle ein Problem bei der Lieferung. Aber es war nicht so, dass die Tests nicht vor Ort waren.

Zu Testverweigerern:

Gebauer: Nur 0,3 Prozent der Schüler verweigern sich einer Testung.

Zu Lolli-Tests:

Gebauer: Ab Anfang kommender Woche starten wir mit den Lolli-Tests an den Grund- und Förderschulen in NRW. Sie sind besonders geeignet für diese Kinder und besonders sicher, weil es PCR-Tests sind. Die Kinder lutschen an Stäbchen, alle Stäbchen kommen in einen Beutel, und ein Labor prüft, ob dieser „Pool-Test“ negativ ist, oder ob es eine Corona-positive Person in der Gruppe gibt. In diesem Fall machen die Kinder zu Hause noch einen Test.

Zum Impfen von Lehrern (die Schulleiterin Reinhild Vogt aus Essen fragte, warum Lehrer der Sekundarstufen nicht priorisiert geimpft werden):

Gebauer: Der Bund hat eine andere Priorisierung vorgegeben, weil er meint, Grund- und Förderschullehrer seien einem größeren Risiko ausgesetzt als Lehrer an weiterführenden Schulen. Jetzt starten wir mit der nächsten Prio-Gruppe, in der auch Lehrer aus weiterführenden Schulen sind. Ich hätte mir gewünscht, dass alle Lehrkräfte gleich behandelt würden.

Zum Stress im Amt (André Bücking fragt, ob Gebauer auch mal an Rücktritt gedacht habe):

Gebauer: An Rücktritt nicht, aber wenn man Grablichter zugeschickt bekommt mit einem Begleitschreiben: „Das ist für die vielen Toten, für die Sie stehen“, ist das nicht schön.