Essen. . Der Galdhøpiggen ist der am meisten bestiegene und mit 2469 Metern der höchste Berg Norwegens. Wer zügig hinaufsteigt, kann den Gipfel in drei Stunden erklimmen. Vor ein paar Jahren war der Glittertind ebenso gefragt, als er aber an Höhe verlor, musste er seinen ersten Platz abgeben.
Doch, es gibt ihn: Den Moment, in dem man König ist im Jotunheimen, im „Heim der Riesen“ also. Den Moment, in dem man auf dem höchsten Riesen thront, einsam und dem Himmel nah, unter sich die Welt aus Eis und Stein und ringsum Stille, die so schwer auf einem lastet wie der nass gewordene Sommerschnee auf den Gipfeln gegenüber.
Es gibt ihn also wirklich, den Moment, in dem man den Galdhøpiggen für sich hat, wenn man nur früh genug auf den Beinen ist. So gegen sechs, halb sieben morgens wäre eine gute Zeit, wenn vor der Juvashytta erst eine Handvoll Kombis steht und die Sonne, blass noch, neben dem Juvatsee am Eisbruch leckt. 628 Höhenmeter sind es von hier bis auf Skandinaviens höchsten Punkt, 2469 Meter überm Meer. Und wer zügig geht, ist in drei Stunden oben. Was für ein Logenplatz: Ein Sechstel Norwegens sieht man von hier, 250 Gipfel, und dazu kommt, an den Wochenenden, das Pilgerzug-Spektakel.
„So wie ein Muslim einmal nach Mekka muss“, sagt Kjell Nyøygaard, „muss ein Norweger einmal auf den Galdhøpiggen“. Er hat ihn 886 Mal bestiegen, ein paar tausend Gäste hochgebracht und er weiß, wann hier die einsamen Momente sind: „Nicht heute.“ Der letzte Samstag in den Ferien und endlich Sonne im tiefblauen Himmel: ein Tag wie gemacht für einen Gipfelsturm. Weit über tausend sind es, die an diesem Tag Norwegens höchsten Berg erobern wollen, ausgestattet mit Stöcken, Rucksäcken – und mit viel Geduld. „Am Gletschereinstieg wird es eng“, sagt Kjell Nyøygaard.
Berg mit eigener Fangemeinde
Der Styggebreen ist für einen Gletscher eher harmlos, doch verschneit, und wer weiß schon, ob nicht doch irgendwo eine Spalte lauert? Anseilen also, hundertfach. In drei Spuren geht es übers Eis, Seilschaft hinter Seilschaft hinter Seilschaft, eine Polonaise ohne Schlussmann, die sich durch den Sulz des Stygge schiebt. Viel ist nicht zu sehen von der Spitze des Galdhøpiggen an diesem Tag. Über dem Gneis des Gipfels liegt ein konfettibunter Goretex-Flickenteppich, kaum ein freier Stein für die ersehnte Atempause und dennoch kein Gedränge: Man rückt gut gelaunt zusammen und wünscht sich Glück. „Der Galdhøpiggen“ sagt Kjell Nyøygaard, „hat eben seine Fangemeinde“.
Die Zuneigung von Bergsteigern indes ist flüchtig: Vor ein paar Jahren noch war der Glittertind ebenso gefragt. Die „Glitzerzinne“ ist ein wuchtiger Kegel gegenüber, gekrönt von einer Haube aus Eis und Schnee. Bis 1981 war er in Norwegen die Nummer eins, doch die Gipfel-Wächte schmolz und schmolz, von 2481 Meter überm Meer auf 2464, fünf Meter niedriger als der Galdhøpiggen. „Wer will schon auf die Nummer zwei?“, sagt Kjell Nyøygaard. Und so ist auch an diesem Tag der Glittertind ein einsamer, kalter Hüne im Riesen-Heim.
Dass die Gletscher schmelzen und Berge kleiner werden, weiß man im Jotunheimen, und nirgendwo kann man es besser sehen als am Fuße des Galdhøpiggen, im „Klimapark“ von Osmund Gaukstad. Zusammen mit Freunden hat er einen rund 70 Meter langen Tunnel hier ins Eis gegraben, mit Spitzhacke und Pickel, denn Elektrofräsen kapitulierten vor dem Material. Hellblaue Leuchtdioden spenden trübes Licht, an den Wänden Eisblöcke wie Vitrinen, darin Kopien von den Fundstücken, auf die sie bei den Grabungsarbeiten stießen: ein 3400 Jahre alter Schuh, ein Bogen und die Holz-Pfeile der Rentierjäger.
Filme zum Klimawandel unter meterdickem Eis
Am Tunnel-Ende öffnet sich der Schacht zu einer Aula mit Platz für rund zwei Dutzend Menschen. Hier, unter zwölf Meter massivem Eis, zeigt Gaukstad Filme, die informieren über Klimawandel und den Gletscherschwund. „Wer hier lebt, kann es sehen“, sagt er, „jeden Tag schmilzt uns ein Stück davon“. Und in fünf, sechs Jahren wird sein eigenes Werk zerronnen sein, versickert zwischen den Geröllhalden, zwischen Steinbrech, Hahnenfuß und Rentierflechte.
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Vor allem an den heißen Tagen kommen die Rentiere hier herauf, der Flechte wegen und auf der Flucht vor den Mücken unten im Tal. Und mit den Tieren kommen auch die Jäger, immer noch. Jagdgewehre haben Pfeil und Bogen abgelöst, sonst hat sich allerdings kaum etwas verändert. „Der Schinken“, sagt Joarn Slettede, „schmeckt heute noch genauso“.
Nur ein paar Kehren talwärts vom „Klimapark“ hat er vier Berghütten zu Ferienhäusern ausgebaut, und Gäste begrüßt er stets mit „Spekemat“, mit Rentierschinken also, Elchsalami und hausgemachter Ziegenwurst. Dazu ist „Rømmegrøt“ beinahe zwingend: Saure-Sahne-Grüze mit Nußbutter, Zimt und Zucker. Wer bei Joarn Slettede Station macht, will meist auf den Galdhøpiggen. „Da braucht man Energie“, sagt er.
Die ersten Quatiere für Bergsteiger in Jotunheimen
Slettedes waren die ersten hier, die Bergsteigern im Jotunheimen ein Quartier anboten. Joarns Großtante Jørgine baute das erste Ferienhaus, eine komfortable Hütte aus warmem, dunklem Holz mit Grasdach und Blick übers weite Tal. An diesem Wochenende ist es ausgebucht, so wie alle von Slettedes Hütten. „Wir Norweger“, sagt er, „sind ziemlich berechenbar“.
Auch er will morgen auf den Galdhøpiggen. Doch Slettede wird sich nicht einreihen in die Schlange von der Juvashytta aus, er kennt im Jotunheimen alle Schleichwege, auch den auf den höchsten Gipfel: Über den Spiterstulen gibt es einen Anstieg – zwei, drei Stunden länger zwar, doch dafür beinahe unbekannt.
Kein bunter Gänsemarsch bewegt sich hier hinauf, keine Seilschaften in Kompanie, nur Slettede wird Schritt für Schritt setzen über loses Gneis und weichen Schnee. Ein paar Rentiere auf seinem Weg, vielleicht, die die Flanke des Berges queren, bis sie in einem Geröllfeld irgendwo verschwimmen mit dessen hellem Grau. Die Wolken werden unter ihm im Tal kleben wie steif gefrorene Zuckerwatte. Ihm wird nach singen sein. Und die Riesen werden schweigen in ihrem kalten Heim.