Vesteralen. . In Lappland teilen sich zwei Menschen einen Quadratkilometer, in Deutschland sind es 230. Abgelegene Orte und Landschaften Skandinaviens sind eine Abenteuerreise wert. Die Autorin Pia Volk ist dorthin gereist und hat viel erlebt. Vor allem, dass ohne Plan die Zeit vollkommen egal wird.

Unser VW-Bus stand auf dem Strand, im Sand. Oder besser gesagt: Er hatte sich dort eingebuddelt. Zuviel Gas und der weiche Sand hatten aus unseren Reifen Schaufelbagger gemacht, die den Sand fliegen ließen. Kein Weiterkommen. Wir steckten fest. Vor uns breitete sich das türkisfarbene Meer aus, das viel zu kalt war, um darin zu baden. Wir waren in Norwegen, oberhalb des Polarkreises, auf den Vesteralen – und eigentlich wollten wir am Tag zuvor schon die Fähre zurück auf’s Festland nehmen. Zwei Tage verbrachten wir damit, Treibholz und Steine zu sammeln, um uns damit aus dem Sand zu befreien.

Es ist schon seltsam, dass jede Reise ein Ziel braucht. Einen Punkt, an den man sich klammern kann, zu dem man sich vorarbeitet, als sei Reisen nur eine andere Form des Arbeitens. Man setzt sich Zwischenstationen, um jeden Tag einen kleinen Etappensieg zu feiern.

Ein halber Finne, ein ganzer Sommer

Mein damaliger Freund war halber Finne und verbrachte ganze Sommer in Finnland. Ich ging mit und ließ mich in die Kunst des Saunierens mit Vodka-Aufgüssen einführen und lernte den Geschmack von Lachs nach dem Holz, über dem er geräuchert wird, zu unterscheiden. Irgendwann war der Vodka leer und der Lachs auch – und wir beschlossen, zum Nordkap aufzubrechen. Wir dachten damals noch, das sei der nördlichste Punkt des europäischen Festlandes. 1500 Kilometer lagen vor uns.

Das Leben ist seltsam, so weit oben, wo die Straßen so schmal sind wie deutsche Feldwege und endlos geradeaus führen, den Wellenlinien der Hügel folgen und sich bis zur Küste hin kaum biegen und winden. Es gibt keinen Mittelstreifen, der einem anzeigt: Dies ist deine Straßenseite, die andere Hälfte gehört jemand anderem. Die Welt ist ohne Grenzen. Nichts hat einen Anfang, nichts ein Ende – nicht einmal Ortschaften.

Einmal suchten wir irgendwo in Lappland ein Dorf, das auf der Karte eingezeichnet war. Wir erwarteten ein Ortsschild, ein paar Häuser, einen Supermarkt, vielleicht auch eine Post mit Bankautomat. Das Ortsschild kam – aber danach nichts mehr. Nach einiger Zeit stoppten wir an einer Tankstelle, die scheinbar verloren auf offener Flur stand. Durch den Ort seien wir gerade durchgefahren, erklärte uns der Tankwart. Die Häuser könne man aber von der Straße aus nicht sehen, weil sie alle verstreut in Wiesen und Feldern lägen.

Keine geeterten Straßen, keine Menschen

In Lappland teilen sich zwei Menschen einen Quadratkilometer, in Deutschland sind es 230 Menschen. Keine geteerten Straßen, keine Orte, keine Menschen. Es ist nicht erschreckend leer, sondern wunderschön weit. Den ersten Menschen, dem wir erklären mussten, woher wir kamen und wohin wir gingen, trafen wir, als wir auf dem Polarkreis balancierten. Er führt genau durch Rovaniemi, wo nach finnischer Tradition der Weihnachtsmann wohnt. Es war mitten im Sommer.

Wir hatten keine Ziele mehr, keine Etappensiege. Wenn wir Lust hatten, bogen wir in Schotterpisten ein und schauten, wo sie endeten. Die meisten mäanderten durch den Wald und endeten irgendwann wieder auf einer geteerten Straße. Eine führte uns mitten hinein in eine Rentierherde. Wir hielten an und warteten, bis die Tiere weiterzogen. Wir hatten keine Eile – nicht mal die Dunkelheit nötigte uns, einen Stellplatz zu finden. Die Sonne geht im Sommer in Lappland nicht unter.

Wenn wir nicht mehr fahren wollten, blieben wir oft einfach stehen. Manchmal war es dann schon zwei Uhr nachts und wir brutzelten etwas auf unserem Campingherd.

Ohne Plan wird die Zeit vollkommen egal

Wenn man sich keinen Plan macht über die Strecken, die man in einer bestimmten Zeit hinter sich bringen will, dann wird Zeit vollkommen egal. Auch, weil wir seit dem dritten Tag keine Uhr mehr besaßen. Die einzige, die wir hatten, war das Handy meines Freundes – aber es gab ja in dieser Wildnis keine Steckdosen. Und so verloren wir die Zeit. Es gibt Menschen, die fühlen sich bedroht, wenn sie alleine sind. Wir fühlten uns wunderbar frei. In diesem Zustand der Freiheit erreichten wir die Vesteralen.

Wir waren in Finnland irgendwann links abgebogen und dann geradeaus gefahren, durch ein Stück Schweden, dann nach Norwegen, waren auf der Halbinsel Senja gelandet und hatten von dort die Fähre auf die Vesteralen genommen. Dort endeten wir an diesem Strand. Hinter uns ragten die Berge auf, der Wind sauste in unseren Ohren – und keine Menschenseele war zugegen. Wir wussten, dass wir nicht ewig bleiben konnten. Wir wussten, dass unser Wasservorrat zuneige gehen würde. Wir wussten, dass es ein Paradies auf Zeit war. Aber wir zögerten unseren Abschied hinaus: Zwei Tage sammelten wir Holz – dann tuckerten wir zurück in Richtung Welt der tickenden Uhren und Supermarktschlangen.