Xijiang. Die ethnische Minderheit der Miao lebt in mal sanft geschwungener, mal wild zerklüfteter Landschaft. Das Volk wurde im China des 18. Jahrhundert unterdrückt und floh in die Berge. Traditionelle Sitten und Bräuche sind den Miao besonders wichtig.

Kurz vor dem Ziel stoppt der Kleinbus nach kurvenreicher Fahrt an einem Aussichtspunkt. Es ist noch kühl zu dieser frühen Morgenstunde, die Luft ist feucht, es riecht nach Moos. Eine neblige Karstlandschaft erstreckt sich bis zum Horizont. Aus der Ferne dringt ein leises Donnern hervor. Es rührt nicht etwa von einem heraufziehenden Gewitter, sondern von dem Huangguoshu-Wasserfall, der nicht nur der größte in China, sondern in ganz Asien ist.

Bald ist der Eingang zum Naturpark erreicht. Noch ist der große Wasserfall nicht zu sehen. Ein schmaler Rundweg am Berghang, entlang eines Waldrands, vorbei an Flüssen und Seen mit kleineren Kaskaden führt zu ihm. Hinter einer Biegung zeigt er sich schließlich. Ein gewaltiger Anblick: Aus 100 Metern Höhe und auf einer Breite von 76 Metern stürzen die Fluten des Baishui-Flusses steil herunter. Über dem See am Fuß des Wasserfalls bilden die Gischt und das einfallende Sonnenlicht einen Regenbogen.

Höhlen im Kalkstein

Der Weg endet nicht an einer Aussichtsstelle, sondern führt weiter durch eine fast 140 Meter lange Höhle hinter dem an manchen Stellen nur eine Armlänge entfernten Wasservorhang. Mit dem Besuch des Huangguoshu-Wasserfalls beginnt eine Reise durch die mal sanft geschwungene, mal wild zerklüftete Landschaft in der Provinz Guizhou im Südwesten Chinas. Terrassierte Reisfelder werden von dichten Wäldern begrenzt. Ganze Höhlenkomplexe ziehen sich durch die Kalksteinformationen. In tief eingeschnittenen Tälern leben ethnische Minderheiten an Flussläufen in kleinen Dörfern.

Nach der Volkszählung im Jahr 2000 bilden in China zwar die Angehörigen der Han-Nationalität mit 91,6 Prozent die Bevölkerungsmehrheit. Dennoch ist China ein Vielvölkerstaat. Der Zensus listet 55 "nationale Minderheiten" auf, die mit insgesamt 105 Millionen Menschen 8,6 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. In Guizhou zählen fast 35 Prozent der Einwohner zu 18 ethnischen Minderheiten. Darunter sind die Miao und die Dong im Südosten sowie die Hui und die Yi im Westen.

Miao bewahren ihre ethnische Identität

Auch wenn die Provinzregierung zahlreiche Dörfer inzwischen an das Straßen- und Stromnetz angeschlossen hat und so die Moderne eingezogen ist in die zuvor und teils nach wie vor rückständige Bergwelt, bewahren viele Dorfbewohner wie die Miao ihre traditionellen Sitten und Gebräuche. Das sei Ausdruck ethnischer Identität, die zu bewahren umso stärker als Bedürfnis empfunden werde je stärker die Gefahr der Assimilation durch die Mehrheitsbevölkerung drohe, sagt der Ostasien-Experte Thomas Heberer von der Universität Duisburg-Essen.

Die Miao in Guizhou seien im 18. Jahrhundert wegen der Verdrängungspolitik des Kaiserhofes und der Unterdrückung und Ausbeutung durch Han-Beamte "so verzweifelt gewesen, dass sie ihre Siedlungen auflösten, teilweise sogar ihre Frauen und Kinder töteten, um mit aller Kraft und letzter Konsequenz an einem Aufstand teilnehmen zu können". Er sei in einer Niederlage mit 18.000 toten Miao geendet: "Ihr gesamtes fruchtbares Land wurde an Han verteilt, die Miao mussten sich tief in öde und unfruchtbare Berggebiete zurückziehen", erzählt Heberer. Solche historischen Traumata manifestierten sich im kollektiven Gedächtnis dieser Minderheit, sagt der Wissenschaftler.

Gäste werden mit Gesang und Reisschnaps empfangen 

Am Eingang von Xijiang, dem größten Miao-Dorf in China, empfängt eine Frauendelegation in ihren farbenfrohen und reich bestickten Trachten die Gäste mit einem Lied. Dann treten jeweils zwei Frauen singend an den Gast heran, umgarnen ihn, bis die eine sanft seinen Kopf in Richtung der anderen dreht und diese ihm aus einem Wasserbüffelhorn Reisschnaps einflößt. Was für ein herzlicher Empfang. Diese Zeremonie ist keine Touristenfolklore, sondern geht auf eine uralte Tradition zurück, den Besucher willkommen zu heißen.

Ebenso kleiden sich die Frauen nicht nur für Touristen oder zu Festen in ihre selbst gefertigten Trachten, sondern tragen diese oft im Alltag. Auch stecken sie täglich ihre Haare zu einem seitlichen Dutt zusammen und schmücken ihn mit einer großen, roten Blüte. Ihren Silberschmuck legen viele ebenfalls jeden Tag an. Die Miao glauben, dass Silber böse Geister fernhält.

Holzhäuser klettern die Hänge hinauf

Xijiang zählt mehrere Hundert Haushalte. Das Zentrum des Dorfes bildet ein großer Marktplatz. Auf ihm steht eine Art Totem mit einer festgebundenen, beidseitig zu schlagenden Trommel. Feste und Tänze sind nicht wegzudenken aus der Miao-Kultur. Besonders beliebt ist der Trommel-Tanz. Die Miao leben in Holzhäusern, die wie am Marktplatz schachtelförmig an Hängen heraufklettern. Auch neue Häuser werden im alten Stil errichtet.

Die Menschen bauen Reis, Mais, und Gemüse, darunter Süßkartoffeln, an und betreiben etwas Viehzucht. Auch wenn die Provinzregierung einige Miao-Dörfer übertrieben herausputzt, hinterlässt Xijiang einen authentischen Eindruck. So ist nirgendwo ein Souvenirgeschäft für Touristen zu sehen. Zum Mittagessen empfangen die Frauen die Besucher wieder mit Gesang und Reisschnaps aus Wasserbüffelhorn. Sie stehen in zwei Reihen hinter den an einer langen Tafel speisenden Gästen. Immer wieder wird das Wasserbüffelhorn an die Lippen des Gastes geführt. Das hervorragende Essen zieht sich über Stunden. Gut, dass dem Restaurant eine Pension angeschlossen ist. (Die Reise wurde unterstützt von Caissa Touristic, Hamburg) (dapd)