China-Experte Prof. Thomas Heberer erläutert für WAZ-Wissen die Hintergründe der Unruhen in Tibet.Konflikte mit Minderheiten wachsen. Völker werden seit Jahrzehnten systematisch unterdrückt
Die Unruhen in Tibet in den letzten Wochen haben verdeutlicht, dass die Lage in China keineswegs stabil ist. Vergessen wird in der Regel, dass China ein Vielnationalitätenstaat ist, in dem die Tibeter lediglich 0,42 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Der letzten Volkszählung von 2000 zufolge hatten die 55 "nationalen Minderheiten" einen Anteil von 8,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung Chinas (die "Han", die Bevölkerungsmehrheit, machten 91,6 Prozent aus).
China steht keineswegs vor einem Zerfall nach sowjetischem Muster. Gleichwohl nehmen die Konflikte zwischen den Nationalitäten zu. Im Gegensatz zu den radikalpolitischen Phasen der Mao-Ära (Großer Sprung, Kulturrevolution) findet derzeit keine Eliminierung der Minderheiten statt, sondern autoritär-patriarchalische Kontrolle.
Die Konflikte haben historische, politische, ökonomische, kulturelle und soziale Ursachen. Ethnische Konflikte beginnen stets im Denken von Nationalitäten. Die Miao in Guizhou etwa waren im 18. Jahrhundert so verzweifelt, dass sie ihre Siedlungen auflösten, teilweise sogar ihre Frauen und Kinder töteten, um mit aller Kraft und letzter Konsequenz an einem Aufstand teilnehmen zu können, der in einer Niederlage mit 18 000 toten Miao endete. Ihr Land wurde an Han verteilt, die Miao mussten sich tief in öde und unfruchtbare Berggebiete zurückziehen.
Bei der Niederschlagung muslimischer Aufstände im 19. Jahrhundert haben chinesische Truppen ein derartiges Gemetzel angerichtet, dass sich die Zahl der Muslime nahezu halbierte. Dazu kommen die Traumata der Mao-Ära: Die grausame Niederschlagung von Aufständen verschiedener Völker in den 1950er Jahren, die Zerstörung der Kulturgüter und religiösen Stätten, der Versuch ökonomischer und kultureller Gleichschaltung. Allein im Verlauf des Aufstandes von 1959 kamen 87 000 Tibeter ums Leben und 2690 von 2700 tibetischen Klöstern wurden in 60er Jahren zerstört.
Durch die Kulturrevolution hat sich das Beziehungsgefüge zwischen den Nationalitäten grundlegend gewandelt. Ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben sich auch traditionelle Vorstellungen von Hierarchisierung wie, dass die Han schon immer "Kultur" besessen hätten, deren Besitz sie von den anderen Völkern unterscheide, wobei das politische Ziel in der "Kultivierung" dieser Völker bestand. Die indigenen Völker galten als "Barbaren", die oft mit Tieren verglichen wurden. Der patriarchalische sozialistische Staat legte fest, was für die "Minderheiten" nützlich ist und welche Sitten und Bräuche "gesund" (oder fortschrittlich) und damit "reformierbar" waren und welche "ungesund" sind und abgeschafft oder reformiert werden mussten.
Auf politischem Gebiet bestehen die Kernprobleme im Fehlen echter Autonomie. Bei der Verfassung und dem Autonomiegesetz handelt es sich um "weiche" Gesetze, weil es aufgrund fehlender Rechtsinstitutionen (es existieren keine Verfassungs- und Verwaltungsgerichte) und der Überordnung der Partei über das Recht keine Instrumente zur Durchsetzung dieser Gesetze gibt. Zudem sieht das Autonomiegesetz in Fragen wie Einwanderung von Han, Industrieansiedlung oder Schutz natürlicher Ressourcen keine Mitspracherechte vor.
Ökonomisch gesehen zählen die Minoritätengebiete zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen und dies, obwohl viele dieser Gebiete wegen reicher Rohstoffvorkommen großes Entwicklungspotential besitzt. Die Mehrheit der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebt in Minderheitengebieten. Trotz aller Wachstumsraten auch für die autonomen Gebiete haben sich die Entwicklungsunterschiede zwischen den Siedlungsgebieten ethnischer Minoritäten und den Han-Gebieten im Verlauf der Reformära vergrößert.
Verstärkte Zuwanderungen in Minoritätengebiete (von Händlern, staatlichen Institutionen oder Privatpersonen, die ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung Wälder abholzen, nach Edelmetallen schürfen oder Kohle abbauen) verstärken die Unzufriedenheit in den Minoritätengebieten, zumal auswärtige Händler und Handwerker einheimische vom Markt verdrängen. Beschäftigte, die einer ethnischen Minorität angehören, werden oftmals schlechter bezahlt, verrichten mindere Tätigkeiten und haben geringere Fortbildungschancen als Han.
Die Nicht-Han Völker reagieren unterschiedlich auf diese Lage. Bei einigen Gruppen wächst das Moment der Ethnizität, d.h. das Selbstbewusstsein eigener ethnischer Identität; bei einem Teil davon schlug Ethnizität in Widerstand um - wie in Tibet. Vor allem bei kleineren Nationalitäten hat sich eine Tendenz zur Resignation und Anpassung an die Han entwickelt.
Der Reformprozess in China hat keineswegs zu einer Angleichung der Kulturen geführt. Der partielle Rückzug des Staates bewirkt vielmehr eine Rückkehr lokaler Kulturen. In Zeiten raschen sozialen Wandels findet eine Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen statt, um sich selber als Gruppe zu erhalten. Die Revitalisierung von Religion gilt nicht nur für den Islam und den tibetischen Buddhismus, sondern auch für schamanistische Glaubensvorstellungen und das Anwachsen von Sekten und Heilsbewegungen.
Die Diskrepanz bei Einkommen, Lebensstandard und Lebensqualität zwischen den Han-Metropolen und den ländlich geprägten Minoritätengebieten vergrößert sich immer mehr. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in den eigenen Siedlungsgebieten verbindet sich mit dem Verfall traditionaler Werte und einer Lockerung lokaler Gemeinschaften. Kriminelles Verhalten scheint für viele Jugendliche die einzige Möglichkeit zu sein, der Hoffnungslosigkeit und Armut zu entrinnen. Von daher muss kriminelles Verhalten zugleich als eine Art ethnischen Protestes begriffen werden.
Die chinesische Nationalitätenpolitik nach 1949 wies durchaus konstruktive Ansätze auf, die für eine künftige Nationalitätenpolitik fruchtbar gemacht werden könnten. Die Volksrepublik erkannte in den 50er Jahren offiziell über 50 "nationale Minderheiten" und damit erstmals deren reale Existenz an und sicherte diese Anerkennung zugleich rechtlich ab. Es wurde ein Recht auf Autonomie formuliert und in Teilbereichen gewährt. Verfassungsrechtlich gelten alle Nationalitäten als gleichberechtigt. Diskriminierung wurde gesetzlich untersagt. Ferner gibt es Vertretungsrechte für die ethnischen Minoritäten in den Parlamenten aller Ebenen. Zwar sichert dies keine Partizipation im demokratischen Sinne, es weist aber auf ein gewisses Maß an Akzeptanz von Vertretungsrechten für Minderheiten hin.
Zwar wollten die Tibeter 1950 nicht Teil Chinas werden. Eine Autonomie, die eine freie innere Entwicklung ermöglichte, hätte sie mit einer chinesischen Oberhoheit aber versöhnen können. Die chinesische Politik hat vornehmlich durch die Radikalpolitik der Mao-Ära nicht nur das Vertrauen der Tibeter zerstört, sondern auch Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt Tibets.
Auch wenn China mit Blick auf die Olympiade scharf kritisiert wird, wird die internationale Staatengemeinschaft nicht von dem Prinzip abgehen, dass Tibet Teil Chinas ist. Dafür gibt es zahlreiche Gründe - und zwar nicht nur das Interesse am China-Handel. Wenn die westlichen Staaten plötzlich für die tibetische Unabhängigkeit votierten, wäre dies ein außenpolitischer Affront gegen Peking, der dort zu innenpolitischer Verhärtung führen würde. Das würde den derzeitigen Umgestaltungsprozess in China schwächen.