Flandern. 2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Die belgische Regierung investiert Millionen in Restaurierung. In einem Museum in Flandern sollen die Besucher den Grabenkrieg “am eigenen Leib erfahren“ können.
Nur knapp 1,60 Meter hoch ist der unterirdische Raum und höchstens vier Quadratmeter groß. Kristof Blieck kann nicht aufrecht stehen, gebückt drängt er sich an den Holzbalken entlang, die die Decke stützen sollen. Durch zwei Schlitze in einer Wand scheint ein bisschen Licht in das düstere Verlies. Zögerlich wischt sich Blieck die Hände an seinem Blaumann ab und lehnt sich verkrümmt an die Wand. „Die Soldaten hier drin sollten sich nicht allzu wohlfühlen“, sagt er und grinst dabei ironisch. Dann tappt er zu einem der Schlitze, der als Tür dient, und tritt hinaus in den Schützengraben. Blieck leitet die Bauarbeiten in den neuen Schützengräben im „Memorial Museum Passchendaele 1917“ im belgischen Westflandern. Hier werden in ein paar Monaten Touristen erahnen, wie es sich anfühlte, Frontsoldat im Ersten Weltkrieg zu sein.
Geschichte am eigenen Leib erfahren, findet Franky Bostyn, sei einfach die beste Möglichkeit, um Museumsbesucher zu begeistern. Und die modernste. „Wir möchten den Besuchern etwas bieten, das sie nicht im Internet oder in einem Film bekommen können“, sagt er. Geschichte am eigenen Leib erfahren nämlich. Bostyn ist der Kurator des „Memorial Museums Passchendaele 1917“. Die Ausstellung dort befasst sich mit einer bedeutenden Schlacht des Ersten Weltkriegs: 1917 eroberten britische und kanadische Truppen das flämische Dorf Passchendaele von den deutschen Besatzern zurück. Beide Seiten erlitten große Verluste und die Gegend wurde vollkommen zerstört. So ganz erholt hat sich Westflandern noch immer nicht von diesem Krieg, der bald 100 Jahre zurückliegt. Das möchten die Flamen auch nicht. Viel lieber pflegen sie ihre alten Wunden und zeigen sie der Welt.
60.000 Besucher pro Jahr
Denn der Erste Weltkrieg in Flandern ist heute vor allem eines – ein Touristenmagnet. Jährlich, so Bostyn, besuchen 60 000 Geschichtsinteressierte das Museum, weitere 250 000 strömen zum nahe gelegenen britischen Soldatenfriedhof Tyne Cot. Kurator Franky Bostyn sieht den Tourismus nicht nur als Wirtschaftsfaktor: „Der Tourismus ist die beste Chance, das Kriegserbe Flanderns zu erhalten.“ Allerdings sollte das „Qualitätstourismus“ sein. Partysüchtige Halbstarke wolle man nicht unbedingt anlocken.
Die meisten Besucher, erzählt Bostyn, kämen aus dem britischen Commonwealth oder aus Belgien. Nur sehr wenige deutsche Touristen reisten heute zu den Schauplätzen des Ersten Weltkriegs. Das liege wohl daran, mutmaßt auch Kristof Blieck, dass der Zweite Weltkrieg den Deutschen viel näher sei als der Erste – sowohl zeitlich als auch emotional. Im Memorial Museum wird die deutsche Geschichte jedoch genauso detailliert dargestellt wie die der britischen Soldaten und der flämischen Bevölkerung. Abwechselnd läuft man durch deutsche und durch britische Schützengräben, angefangen bei den noch etwas provisorischen Bauarten des ersten Kriegsjahres. In einem Unterstand findet man an einem Original-Wellblech die Kritzeleien zweier deutscher Soldaten, die man noch heute entziffern kann.
Glanz der Geschichte
Damit die eher ländliche Gegend Westflanderns pünktlich zur Hundertjahrfeier des Kriegsbeginns im Jahr 2014 im Glanz der Geschichte erstrahlt, hat die flämische Regierung laut Bostyn 15 Mio. Euro bereitgestellt. Das Geld aus dem Projekt „Gedenken 100 Jahre Großer Krieg“ fließt in die Renovierung der Infrastruktur und der zahlreichen Kriegsdenkmäler, -museen und -erinnerungsstätten. Das Memorial Museum bekommt für seine Erweiterung 800 000 Euro. Und die werden auf dem Außengelände des ehemaligen Schlosses in Passchendaele gerade verbaut.
Kriegsmuseum in Flandern
In den neuen Schützengräben riecht es nach frisch geschlagenem Holz und Seife. Letzteres, erklärt Kristof Blieck, komme von den Plastikkügelchen, mit denen die überall herumliegenden Sandsäcke gefüllt werden. „Früher wurde immer Beton genommen, aber dann hatten die Säcke nicht diese sandige, braune Farbe wie das Original“, erklärt Blieck. Eigentlich lautet Kristof Bliecks Berufsbezeichnung „Wissenschaftlicher Mitarbeiter“. „Schützengrabenexperte“ würde es besser treffen. Der 35-jährige Flame kennt den Hintergrund eines jeden Bretts, Wellblechs und Laufstegs, der im neuen Außenbereich des Museums verbaut wird. Die Baupläne für die Anlage beruhten auf archäologischen Funden und auf zeitgenössischen Fotos und Fachbüchern, erklärt er.
Kleiner Ausschnitt der Realität
Der 150 Meter lange Ausstellungs-Schützengraben zeigt, wie sich die Bauweisen der deutschen und der britischen Soldaten im Laufe der vier Kriegsjahre verändert haben. Sechs verschiedene Graben-Typen und fünf Verstecke und Unterstände sollen den Besuchern die Lebensumstände der damaligen Soldaten näher bringen. Außerdem wird ein großer, neuer Ausstellungsraum gebaut und ein kleinerer, der sich mit der Erinnerungskultur beschäftigt. Nur ein kleiner Ausschnitt der Realität, findet Blieck: „Im Ersten Weltkrieg gab es an der Westfront 40 000 Kilometer Schützengräben. Das entspricht einer Strecke einmal um die ganze Erde.“
Und auch die ganze Erde war betroffen von diesem Krieg, sagt Franky Bostyn. Schließlich kamen die britischen Soldaten aus dem gesamten britischen Empire, also auch aus Neuseeland, Kanada und Australien. Noch heute nehmen die Nachfahren dieser Soldaten die lange Reise nach Belgien auf sich, um die Grabsteine ihrer Großväter oder Urgroßväter mit eigenen Augen zu sehen. Daher, so Bostyn, seien die Jahrhundertfeierlichkeiten auch von einem internationalen Standpunkt aus bedeutsam: „Es ist doch wunderbar, dass ein Krieg, der so zerstörerisch war, die Menschen jetzt zusammenbringt.“
Den Mitarbeitern des Memorial Museums und den bis zu 15 freiwilligen Helfern bringt das historische Erbe momentan aber vor allem eines: sehr viel Arbeit. Im April 2012 soll das Außengelände des Museums fertig sein. Dazu kommen dann noch die Vorbereitungen auf die Jahrhundertfeierlichkeiten und ab 2014 zahlreiche Veranstaltungen. Beispielsweise werden „living history“-Gruppen, also geschichtskundige Laienschauspieler, die nachgebauten Schützengräben zum Leben erwecken. Wenn Kristof Blieck daran denkt, was noch alles auf ihn zukommt bis 2018, muss er einmal tief Luft holen. Aber dann lächelt er und sagt: „Klar haben wir bis 2018 noch viel zu tun. Aber ich finde es schön, dass wir all dies der Welt dann zeigen können.“