Hagen. Das Publikum tobt nach der Premiere von My Fair Lady. Das Theater Hagen dreht die Geschichte auf links. Warum sind alle so begeistert?
„My Fair Lady“ gilt als erfolgreichste Aschenputtel-Geschichte des Musiktheaters: Reicher Wohltäter zieht armes Mädchen aus der Gosse. Das Theater Hagen sieht die Sache allerdings anders und landet mit seiner temporeichen, gegen den Strich gebürsteten Interpretation des Musical-Klassikers einen sensationellen Erfolg, den das Publikum im vollen Haus bei der Premiere mit langem Beifall im Stehen feiert.
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Regisseur Thomas Weber-Schallauer stellt die Abenteuer der Eliza Doolittle mit seinem Team in eine milieustarke, farbenprächtige Kulisse, die ebenso berührend wirkt wie skurril. Die Inszenierung ist sehr gut gearbeitet, von der Personenführung bis zum Lichtbild von Hans-Joachim Köster. Bühnenbildnerin Sandra Linde aus dem Sauerland hat stimmungsvolle, ausdrucksstarke Schauplätze entworfen, die Markthallen von Covent Garden, das herrschaftliche Wohnhaus des Prof. Higgins, die Zuschauertribüne von Ascot und den Garten von Mutter Higgins, die auf der Drehbühne schnelle Verwandlungen ermöglichen.
Die Kostüme von Yvonne Forster sind very british und daher überraschend und ein wenig durchgeknallt. So muss Eliza in einem monströsen karierten Schulmädchen-Hängekleid Vokale üben. Heißt übersetzt: Die Rolle der Tochter aus gutem Hause ist ihr noch eine Nummer zu groß. Mama Higgins prunkt in Ascot mit einer gigantischen rosa Schleife auf dem Popo, und beim Ball in der Botschaft gerät das Publikum unversehens in eine schräge Versammlung der Addams-Family. Das ist eine kluge Antwort darauf, dass im Original ein Mädchen wie ein Stück Fleisch dem Hochmut einer bornierten Gesellschaft vorgeworfen werden soll, die den richtigen Akzent über Werte wie Herzensbildung stellt. Weber-Schallauer weiß auch, wie er den Hagener Opernchor einzusetzen hat. Denn der läuft zu Hochform auf, wenn man die Choristen individualisiert und jedem ein winzig kleines Schicksal anvertraut.
Ein beliebter Theaterkünstler
Tenor Richard van Gemert ist einer der bekanntesten und beliebtesten Theaterkünstler in Hagen, kein anderer Solist steht so oft auf der Bühne wie er, keiner hat so viel Erfahrung. Van Gemert ist der Spezialist für kleine und mittlere Rollen in Hagen. Und jetzt der Professor Higgins! Eine Riesenaufgabe, sehr viel Text, Höchstleistung auf der Langstrecke. Der Tenor erweist sich als großartiger Higgins, eben weil er den Mann nicht als väterlichen, leicht verschrobenen Wohltäter anlegt, sondern als sexistischen, chauvinistischen und dünkelhaften Sonderling. Ein unsympathischer Egoist wie aus dem Lehrbuch – also genau das Gegenteil des Menschen van Gemerts. Eliza, das Mädchen aus der Unterschicht, ist für ihn kein Mensch mit Würde und Gefühlen, sondern ein Experiment, ein Objekt, das er dressiert und mitleidlos schikaniert.
Vera Lorenz ist als Eliza hingegen keine erfahrende Opernsängerin, die ein Mädchen spielt, sondern eine junge Musicaldarstellerin, die sich wie ihre Eliza selbst in einer Lernkurve befindet. So wächst sie bezaubernd über sich hinaus und kann darstellen, dass das Experiment nur aus einem einzigen Grund funktioniert: weil Eliza lernen will. Bildung als Schlüssel zur Erlösung. Wunderbar auch Ansgar Schäfer als Alfred P. Doolittle, der Tevje aus der Hagener „Anatevka“, hier als der schlitzohrige, versoffene, lebensgierige, philosophierende, einfach durch und durch unmögliche Vater Elizas.
Dirigent Steffen Müller-Gabriel und die Hagener Philharmoniker spielen die Partitur von Frederick Loewe als Feuerwerk aus Tempo, Farbe und Brillanz. Gleichzeitig schafft Müller-Gabriel es, dass ein leicht wehmütiger Schleier über den Klängen liegt, als Verbeugung vor den 1950er-Jahren, der Entstehungszeit des Musicals. Damals schienen alle Klassenschranken mit ein wenig guten Willen und Schulbildung überwindbar. Angesichts der Polarisierungen der heutigen Gesellschaft wirken selbst die unflätigen Beschimpfungen, mit denen Prof. Higgins Eliza überschüttet, regelrecht nostalgisch.
Für das Finale orientiert sich Thomas Weber-Schallauer nicht am Musical, sondern an der Vorlage, Bernard Shaws Schauspiel „Pygmalion“. Zutiefst gedemütigt verlässt Eliza das Haus von Henry Higgins. Dieser möchte sie zurückholen, kann sich selbst und ihr gegenüber aber nicht benennen, warum. Es ist bewegend zu sehen, wie Richard van Gemert an dieser Stelle um Zwischentöne ringt. Allein, die richtigen Worte wollen nicht kommen. Higgins kann aus seinem Dünkel nicht heraus. Es gibt kein Happy End, stattdessen regnet es Pantoffeln aus dem Bühnenhimmel.
Die Premiere war ausverkauft und auch die folgenden Vorstellungen sind bereits sehr gut gebucht. Warum ist „My Fair Lady“ am Theater Hagen so erfolgreich, während andere Produktionen gar nicht laufen? Die Antwort auf diese Frage ist wichtig für die Zukunft der Hagener Bühne, die mit gravierenden Publikumsverlusten zu kämpfen und ein neuerliches Sparpaket zu meistern hat. Vielleicht liegt es daran, dass die „Lady“ vom „Anatevka“-Team produziert wird, und „Anatevka“ war ebenfalls ein Dauerbrenner. Dieser Mannschaft trauen die Besucher offenbar zu, es gut zu machen. Die Leute stecken nach Corona einen missratenen Theaterabend nicht mehr einfach weg und kommen trotzdem wieder. Vertrauen wird als Währung immer wichtiger.
Wieder am: 24.4., 1. 5., 24. 5., 30. 5., 7.7. www.theaterhagen.de