Hagen. Eine unabhängige Kommission soll Missbrauch in Westfalen, dem Rheinland und Lippe aufarbeiten. Vor 2025 wird sie aber kaum starten.
Keine Namen, keine Orte. Die Zahlen sind unzuverlässig: Die erste Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche in Deutschland lässt viele Fragen offen. Sie zeigt vor allem, dass die Aufarbeitung noch ganz am Anfang steht. Wie geht es jetzt weiter? Und was ist über die 251 Missbrauchsfälle in Westfalen bekannt? Das sind Fragen, die auch Ulf Schlüter, der Theologische Vizepräsident der Westfälischen Landeskirche, kaum beantworten kann. „Wir werden in den nächsten Monaten eine unabhängige regionale Aufarbeitungskommission für das Rheinland, Westfalen und Lippe aufbauen. Und wir werden ganz sicher sämtliche Personalakten in den Blick nehmen“, sagt er.
Die unzureichende Datenlage ist ein großes Problem der Forum-Missbrauchsstudie, die vor einigen Wochen veröffentlicht wurde. Die Wissenschaftler hatten beklagt, dass nur eine von 20 Landeskirchen die Personalakten geliefert hatte, sie mussten mit den Disziplinarakten arbeiten. Daraus lassen sich für den Zeitraum von 1946 bis 2020 rund 2225 Opfer und 1259 Beschuldigte ermitteln, „die Spitze der Spitze des Eisbergs“, wie der Koordinator der Studie, Prof. Martin Wazlawik sagte.
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Für die Westfälische Landeskirche sind 110 Beschuldigten und 251 Betroffene genannt. Die jeweiligen Gemeinden sind über die Fälle informiert, die aber, anders als einige katholische Bistümer das handhaben, immer nur in Einzelfällen örtlich öffentlich gemacht werden. So wurde zum Beispiel schon vor zwei Jahren eine Studie zum Missbrauchsfall in der evangelischen Kirchengemeinde Brügge in Auftrag gegeben: Sie soll demnächst veröffentlicht werden. In Brügge und im CVJM Lüdenscheid-West soll ein ehrenamtlicher Betreuer mindestens 30 Jahre lang eine große Zahl von Jugendlichen missbraucht haben.
Die Zahl von 251 Betroffenen und 110 Beschuldigten für Westfalen ergibt sich aus der Auswertung von 18 Disziplinarakten. Die Aktendiskussion bezeichnet Schlüter als „Desaster in der Kommunikation“. „Wir werden ganz sicher sämtliche Personalakten in den Blick nehmen“, versichert er. „Wir haben bei der Forum-Studie das, was die Forscher bei uns angefragt haben, in zwei Teilschritten rechtzeitig und vollumfänglich zugeliefert. Schon sehr früh hatte es allerdings Verzögerungen im Gesamtprojekt gegeben. Das hat dazu geführt, dass man sich zwischen EKD und Forschungsverbund geeinigt hatte: Wir gucken nur auf die Disziplinarakten. Das ist dann so in die Landeskirchen hineingetragen worden. Das heißt aber, dass es jetzt noch Akten gibt, nämlich Personalakten, die nicht systematisch gesichtet wurden. Die werden alle angeguckt und in Abstimmung mit der unabhängigen Kommission ausgewertet.“ Schlüter hofft, dass die unabhängige regionale Aufarbeitungskommission 2025 mit der Arbeit beginnen kann.
Seit drei Jahren gibt es eine Meldepflicht für sexuellen Missbrauch bei der Landeskirche in Bielefeld. 70 Meldungen sind seither eingegangen. „Wenn wir inzwischen etwas gelernt haben, dann, dass das Phänomen Missbrauch da ist und Teil unserer Organisation ist.“ Pfarrerinnen und Pfarrern, die zu Tätern werden, droht im schwersten Fall die Entfernung aus dem Dienst. Die Staatsanwaltschaft werde bei jedem begründeten Verdacht eingeschaltet, parallel dazu ein kircheninternes Disziplinarverfahren in die Wege geleitet.
Und doch wissen die Protestanten noch sehr wenig. Das mag daran liegen, dass die evangelische Kirche nicht so hierarchisch aufgebaut ist wie die katholische, eine strukturelle Systematisierung daher schwierig ist. „Wenn es um Pfarrpersonen geht, ist immer die Landeskirche zuständig. Wenn es um privatrechtlich Angestellte wie Kirchenmusiker oder pädagogische Mitarbeitende geht, sind die Fälle beim Kirchenkreis, beziehungsweise der jeweiligen Körperschaft, die Anstellungsträgerin ist, angesiedelt. Bei den bekannten Fällen, wo die Aufarbeitung schon auf dem Weg ist, warten die Gemeinden jetzt auf die Ergebnisse“, erläutert Schlüter.
Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung
Der Theologische Vizepräsident beschreibt die Schwierigkeiten, die bei der Aufarbeitung zu berücksichtigen sind: „Das ist ein sehr langwieriger und zäher Prozess. Am Ende kann herauskommen, dass strafrechtlich nichts zu verfolgen ist. Das heißt aber für uns nicht, dass wir diese Fälle dann einfach zu den Akten legen können. Eine Schwierigkeit ist, dass man sich oft in einer Zone bewegt, wo es um Persönlichkeitsrechte von allen Beteiligten geht. Dennoch muss geklärt werden, was tatsächlich passiert ist.“
Über diesem Prozess drohen die Opfer aus dem Blick zu geraten, das ist Schlüter klar. Dennoch: „Es ist alles heikel, weil Beschuldigungen an der Stelle nicht nur beruflich schwere Folgen haben, das ist eine Gratwanderung. Aber wenn wir wissen, was ist, muss es auch gesagt werden. Oft gibt es bei einzelnen Fällen mehrere Betroffene. Es gibt viele Fälle, wo es um Serien geht. Das alles kann man nur mit Kommunikation aufarbeiten.“
Täter wurden versetzt
Die Gemeinden hingegen brauchen Informationen über die Taten, die bei ihnen begangen wurden, und sie werden auch wissen wollen, was in ihrer Region passiert ist, damit der Heilungsprozess beginnen kann. Genau deshalb haben katholische Bistümer wie Münster, Essen und Aachen in ihren Missbrauchsstudien aufgelistet, was wo geschah, Aachen hat sogar eine Namensliste der überführten Täter veröffentlicht, auch um deutlich zu machen, wo Täter versetzt wurden. Von solchen Informationen sind die evangelischen Christen in Westfalen noch Jahre entfernt, obwohl auch hier mögliche Täter auf andere Stellen verschoben wurden. „Die Studie zeigt, dass es das Phänomen Versetzung von Beschuldigten auch im Kontext der evangelischen Kirche gegeben hat“, sagt Schlüter, „oft, ohne dass die neuen Gemeinden informiert wurden. Ich kann das für Westfalen nicht verifizieren.“
In einer Lernkurve befinden sich die Protestanten ebenfalls mit Blick auf die Betroffenen. Die Studie hatte der evangelischen Kirche attestiert, den Opfern nicht mit dem gebotenen Respekt begegnet zu sein. Schlüter: „Der Blick auf die Betroffenen ist Ausgangspunkt von allem. Wenn ein Betroffener etwas sagt, darf man nicht weggucken. Der Reflex war hingegen früher oft zu sagen, das ist ein Nestbeschmutzer“, analysiert Schlüter selbstkritisch.
Kritik gibt es ebenfalls an den sogenannten Anerkennungsleistungen. Bislang gibt es kein einheitliches Verfahren. Das forderte jetzt die Aufarbeitungskommission des Bundes und auch, dass sich die Zahlungen an der neueren Entwicklung im Bereich der staatlichen Gerichte orientieren sollten. Im Juni 2023 hatte das Landgericht Köln einem Missbrauchsbetroffenen im Bereich der katholischen Kirche die Summe von 300.000 Euro zugesprochen. Bisher liegt die Höchstsumme bei den Protestanten bei 50.000 Euro. Eine Pfarrerstochter, die Missbrauchsvorwürfe gegen ihren Vater, einen bekannten Theologen und Autor, erhoben hatte, erhielt nach 25 Jahren Streit kürzlich 130.000 Euro als Anerkennungsleistung für erlittenes Unrecht.