Hannover. Die evangelische Kirche hat sich lange hinter der katholischen Kirche versteckt. Nun zeigt sich: Sie hat noch mehr Fehler gemacht
Die tiefe Selbstüberzeugung, die beste aller Kirchen zu sein, wird den Missbrauchs-Betroffenen in der evangelischen Kirche in Deutschland zum Verhängnis. Denn, so stellte sich am Donnerstag bei der Vorstellung der erstenprotestantischen Missbrauchsstudieheraus: Verantwortung ist ein Problem in den protestantischen Körperschaften und der Diakonie. Mindestens 2225 Betroffene und rund 1259 mutmaßliche Täter konnte das Forschungsprojekt ermitteln. „Die Spitze der Spitze des Eisbergs“, so der Koordinator des Forscherteams, Prof. Dr. Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover.
Die Spitze der Spitze sind diese Zahlen deshalb, weil nur eine der 22 Landeskirchen vollumfänglich mit den Wissenschaftlern kooperierte und die Personalakten herausgab. Die Studie erfolgte daher nur auf der Basis von Details aus Disziplinarakten. Auf die Frage, warum das so sei, antwortete die amtierende EKD-Vorsitzende Bischöfin Kirsten Fehrs: „Es ist weniger ein bewusstes nicht Wollen als ein unglückliches nicht Können.“ Solche Schwurbeleien machen den Betroffenen das Leben schwer, bilanzierte Martin Wazlawik bei der Vorstellung der Studie. Die kirchlichen Organe würden unter anderem erwarten, dass die Betroffenen den Tätern vergeben. „Die Erfahrungen Betroffener stehen im Widerspruch zur proklamierten Null-Toleranz-Politik“, so Wazlawik. „Sexualisierte Gewalt wurde von den evangelischen Instanzen als individuelles Schicksal und nicht als strukturelles Problem behandelt. Abarbeiten statt aufarbeiten. Betroffene wurden als ein Gegenüber behandelt, besonders wenn es sich um betroffene Pfarrerinnen und Pfarrer handelt.“
Geographische Tatorte nennt die Studie nicht. Die ev. Landeskirche von Westfalen teilte am Donnerstag mit, dass aus ihrem Gebiet Daten über 110 Beschuldigte und 251 Betroffene aus dem Zeitraum von 1946-2020 in die Studie eingeflossen sind. Das heißt, dass über 10 Prozent der Betroffenen aus Westfalen stammen. In dieser Zeit erfolgten in Westfalen demnach 18 Disziplinarverfahren gegen Pfarrpersonen. Einer der bekanntesten Fälle in der Region wurde 2020 im Ev. Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg öffentlich. In Brügge soll in den 1980er Jahren ein ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Jugendarbeit schwere sexualisierte Straftaten an jungen Frauen und Männern verübt haben.
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Ob und wie die typisch evangelischen Strukturen auch im Kirchenkreis Siegen gegriffen haben, wo die frühere EKD-Vorsitzende und Westfälische Präses Annette Kurschus einen Täter gedeckt haben soll, wird derzeit ermittelt. Nachdem ein Betroffener nach jahrelangem Schweigen die Taten öffentlich gemacht und Kurschus als Mitwisserin beschuldigt hatte, trat diese im November zurück.
Der Mythos, dass es bei den Protestanten nicht so schlimm sei wie bei den Katholiken, weil die ev. Kirche föderaler, bunter, partizipativer und fortschrittlicher sei, lässt sich demzufolge nicht halten. Die Studie ergab, dass Täter sowohl in streng konservativen pietistischen Milieus als auch in liberalen offenen Gemeinden immer Wege gefunden haben, ihre Taten auszuüben und zu legitimieren. Und sie haben immer Christen gefunden, die wegsahen. Der spezifisch evangelische Umgang mit den Opfern, eben das „Abarbeiten statt Aufarbeiten“, führte zudem vielfach dazu, dass Serien nicht erkannt wurden, dass die Täter weitermachen konnten. „Bei 85 Prozent handelt es sich um Mehrfachbeschuldigte“, so Wazlawik.
Es handelt sich um Kinder
Auch ein weiterer Mythos lässt sich nicht halten: dass die Betroffenen überwiegend Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenenalter gewesen seien. Das Durchschnittsalter beträgt 11,7 Jahre, es handelt sich um Kinder. Die meisten Beschuldigten sind Männer, zwei Drittel von ihnen sind verheiratet, im Schnitt lassen sich einem Beschuldigten fünf Betroffene zuordnen.
Im Jahr 2010 wurden die ersten Fälle sexualisierter Gewalt in der ev. Kirche bekannt; aber erst seit 2018 gibt es eine breite und öffentliche Thematisierung. Die Verzögerung erklären die Forscher wiederum mit dem protestantischen Selbstbild: Man habe ja gar nicht die Risikofaktoren der katholischen Kirche, sexuelle Gewalt sei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, welches auch zu Einzelfällen in der ev. Kirche führe, das Thema wurde als historisch abgeschlossen betrachtet, mit Verweis auf die Gewalt an Heimkindern in früheren Jahrzehnten.
Harmoniezwang und Konfliktunfähigkeit
„Das Selbstbild der ,Progressivität‘ auch im Hinblick auf gesellschaftliche Liberalisierungstendenzen“ gehört zu den spezifisch protestantischen Problemen, ebenso „wie die Erwartung von Vergebung durch Betroffene als Ansatz zur (Wieder)-Herstellung von Harmonie in evangelischen Kontexten“, heißt es in der Studie. Dazu kommen „Harmoniezwang und Konfliktunfähigkeit im ,Milieu der Geschwisterlichkeit‘“, listete Wazlawik auf. Übersetzt heißt das: Der oder die Betroffene, der Recherche und Aufarbeitung fordert, stört den evangelischen Frieden und wird als Problem gesehen; die Gefahr besteht darin, dass die Täter nicht als das Problem gesehen werden.
Bischöfin Fehrs bekannte am Donnerstag: „Das Gesamtbild hat mich erschüttert. Wir nehmen diese Studie in Demut an.“ Harsche Kritik an der EKD und den Landeskirchen gab es hingegen von Missbrauchsbetroffenen. „Die Betroffenen warten seit Jahren auf diese Studie“, so Detlev Zander. „Der Umgang der Kirche mit den Betroffenen ist unerträglich. Der Föderalismus ist ein Grundpfeiler der sexualisierten Gewalt in der ev. Kirche. Es kann nicht sein, dass jede Landeskirche machen kann, was sie will.“ Noch deutlicher wurde Katharina Kracht, die durch einen Gemeindepastor in der Hannoverschen Landeskirche missbraucht wurde. „Die Kirche gibt sich immer wieder erschüttert, aber was ändert das? Es fehlt in der Landeskirche an Interesse, Fälle wirklich aufklären zu wollen. Es kann nicht sein, dass es immer die Betroffenen sind, die Nachforschungen anregen und dass sie immer wieder auf Hindernisse stoßen. Es braucht eine externe Fachstelle, es braucht die Unterstützung des Staates.“
Wie sich die Diskussion 13 Jahre nach Bekanntwerden der ersten Fälle tatsächlich darstellt, verdeutlicht Wazlawik mit einigen Schlaglichtern: Ende 2020 bemängelte die Hälfte der Landeskirchen „die ablehnende Haltung der Kirchengemeinden zur Etablierung von Schutzkonzepten.“ Und: „Jede vierte Landeskirche gab an, dass das Thema sexualisierte Gewalt nach wie vor tabuisiert war und insbesondere Pfarrpersonen mit dem offenen Umgang mit der Thematik nicht einverstanden waren.“
Mit dieser ersten Studie ist das Thema für die Protestanten aber nicht erledigt. Wazlawik: „Eine grundlegende Personalaktenanalyse bleibt dringend nötig.“
Hier geht es zu der Studie: www.forum-studie.de