Mönchengladbach. Wurden Zeltlager zu Tatorten? Die katholischen Pfadfinder untersuchen jetzt sexuelle und spirituelle Gewalt im Verband.
Die katholischen St.-Georgs-Pfadfinder suchen Betroffene und Zeugen für sexuellen und geistlichen Missbrauch in ihren Reihen. Der Aufruf, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, ist Teil eines umfassenden Aufarbeitungsprojektes, das bereits 2025 abgeschlossen werden soll. 69 Fälle sind zwischen 2008 und heute bekannt. „Wir gehen von einer höheren Dunkelziffer aus“, so Bundesvorsitzender Joschka Hench gestern. „Die Dokumentenlage ist unterschiedlich.“
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Die Situation ist der Alptraum für alle Eltern. Das Kind geht auf Ferienfreizeit, mit anderen Kindern ins Lager; dort soll es Abenteuer erleben, Selbstbewusstsein entwickeln, Selbstständigkeit trainieren. Und nachts wird der Betreuer dann handgreiflich oder schickt der Jugendlichen schmutzige Bilder aufs Handy. Eben weil die Verwundbarkeit der Betroffenen in solchen Situationen so überaus groß ist, untersuchen die Pfadfinder nicht isoliert den sexuellen Missbrauch, sondern parallel spirituellen Missbrauch.
„Du hast es doch auch gewollt“
„Sexualisierte Gewalt und spiritualisierte Gewalt gehen Hand in Hand“, weiß Studienleiterin Prof. Dr. Sabine Maschke. „Spirituelle Gewalt tritt dann auf, wenn spirituelle Bedürfnisse missbraucht werden, wenn die spirituelle Selbstbestimmung begrenzt wird.“ Kinder und Jugendliche auf der Suche nach Sinn und ihrem Platz im Leben seien besonders gefährdet. „Gemeint sind Formen des Machtmissbrauchs, die sich auf den gemeinsamen Geist, den ,Spirit‘ der Pfadfinderschaft, sowie dessen religiöse Fundamente und den Glauben beziehen.“ Die Kinder und Jugendlichen würden manipuliert, sie bekämen zu hören: Du hast es doch auch gewollt, Du machst alles kaputt, Du schadest den Pfadfindern. „Es geht um Erlebniswahrheit, nicht um strafrechtlich relevante Faktenwahrheit“, so beschreibt Professorin Maschke das Erkenntnisinteresse. Ziel der Studie sei es, Strukturen innerhalb der Pfadfinderorganisation aufzuzeigen, die Missbrauch begünstigen.
Der Vorstand der Organisation zeigte sich bei der Vorstellung des Aufrufs radikal gewillt, dunkle Ecken auszuleuchten. „Wir als Täter:innenorganisation brauchen die Perspektive der Erfahrenen. Wir stehen vor großen Veränderungen im Verband und sind gewillt, diese Veränderungen vorzunehmen“, so Hench.
Gerade in der Sprache wollen die Pfadfinder sich bewusst auf die Seite der Betroffenen stellen. Daher benutzen sie Begriffe wie Opfer und Betroffene nicht. Seit Ende 2021 hätten sich Betroffene im Verband dafür ausgesprochen, zukünftig Erfahrene genannt zu werden. Auch bezeichnen sich die St.-Georgs-Pfadfinder als Täterorganisation.
Sabine Maschke und ihr Team leiten auch die anerkannten „SPEAK!“-Studien in Hessen über sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher. Sie arbeitet seit November am Thema und kann bereits erste Erkenntnisse ihrer Recherchen resümieren: Demnach ist, wie in fast allen Sparten kirchlichen Missbrauchs, die Aktenlage kompliziert. Ein wichtiges Recherchefeld sind die Akten von Personen, die aus dem Verband ausgeschlossen wurden. „Die sind auf Bundesebene unvollständig geführt. Besonders wichtig sind daher die Diözesanverbände. 22 von 25 haben sich bereits zurückgemeldet. Knapp ein Viertel sagt, dass man von keinem Fall weiß.“
Weniger einfach ist die Recherche bei den katholischen Bistümern. „Erst von sieben von 27 haben wir eine Rückmeldung erhalten. Wir sind nur begrenzt zuversichtlich. Da ist vieles im Detail zu klären.“ Ein wesentlicher Punkt der Forschung sind weiterhin Interviews mit Betroffenen und Zeugen, für die jetzt der Aufruf gestartet wurde.
Täterstrategien
Die Forschergruppe möchte herausfinden, mit welchen Strategien die Täterinnen und Täter Missbrauch angebahnt haben, ob es eine spezifische Pfadfinderkultur gab und gibt, in der Übergriffe verschwiegen werden, um der gemeinsamen guten Sache nicht zu schaden, und wo sich Gelegenheiten und kontrollfreie Räume auftun, etwa bei Fahrten und Zeltlagern. Außerordentlich wichtig sei auch die Frage, wer von Übergriffen wusste und warum geschwiegen wurde.
Ein Präventionskonzept gibt es bereits bei den St.-Georgs-Pfadfindern: „Wir arbeiten hart daran, eine Organisation zu schaffen, die frei von Gewalt ist“, sagte Jasmin Krannich, Kinder- und Jugendschutzreferentin der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg. „Täter haben keine Möglichkeit mehr, innerhalb des Verbandes zu operieren. Es geht bei der Aufarbeitung um die Verpflichtung, Fehler nicht mehr zu wiederholen.“ Die Kosten für das Forschungsprojekt trage man überwiegend selbst, um unabhängig zu bleiben.
Die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg mit Sitz in Mönchengladbach ist der größte Pfadfinderverband in Deutschland. Gut 80.000 Mitglieder sind in rund 1100 Ortsgruppen organisiert. Auch die Evangelischen Pfadfinder und der interkonfessionelle Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder haben Studien zum Thema Missbrauch in Auftrag gegeben.
Betroffene und Zeugen haben mehrere Möglichkeiten, sich zu melden, sie können ihre Erfahrungen anonym schildern oder an einem Interview teilnehmen. Kontakt: DPSG@erziehung.uni-gießen.de