Lützerath. Die Polizei stürmt das letzte besetzte Haus von Lützerath, die Besetzer singen dazu „Bella Ciao“. Im Tunnel wartet die nächste Herausforderung.

Tag drei in Lützerath: Der Wind fegt kalt, aber trocken hinweg über Bagger und geräumte Häuser, über Aktivisten, die die Nacht auf aufgerichteten Baumstämmen zugebracht haben, über Polizisten, die darunter wachen, über die schlammigen gefurchten Wege, die schier endlos gesäumt sind von Einsatzwagen. Unerreichbar für Witterung und sogar für das Technische Hilfswerk hocken „Pinky und Brain“ vier Meter unter Lützerath in einem von wahrscheinlich zwei Tunneln.

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Am Vortag ist ein Versuch gescheitert, die beiden Aktivisten herauszuholen.S Der Bereich, in dem der Eingang zum Tunnel vermutet wird, ist abgesperrt, die Polizei bespricht sich vor einem bruchfälligen Häuschen mit Feuerwehr und Spezialisten. Ein Problem: Der Tunnel ist stellenweise so eng konstruiert, dass man durch ein Loch kriechen muss. Mehrere „Schotten“ behindern die Einsatzkräfte. Und so lange sich Pinky und Brain dort unten in ihrer Lehmhöhle befinden, neben einem Blumenstrauß, wie man im zugehörigen Twitter-Video sehen kann, darf oberirdisch nicht weiter geräumt werden, zumindest nicht über und im Umfeld der Tunnel. Doch die Musik spielt zunächst woanders.

Lauthals Bella Ciao

Tadzio Müller bereitet sich auf die Räumung vor.
Tadzio Müller bereitet sich auf die Räumung vor. © WAZ | Thomas Mader

„Bella Ciao“, singt Tadzio Müller lauthals aus dem Fenster des letzten besetzten Häuserriegels von Lützerath, genannt WG und Wilde 8. „Der Typ hinter dir ist ein echter bürgerlicher Spießer, aber ist hier seit einer Woche zwischen all dem Linksgestrüpp.“ Zwei Geiger sind dabei, Berufsaktivisten, Müller ist selbstständig in Berlin. „Ich bin seit einer Woche hier, hatte Angst, dass ich zu alt bin, dass ich es physisch nicht mehr schaffe, dass ich nicht aufgenommen werde.“ Und nun hat er, nun, nennen wir es einen nachhaltigen Adrenalinschub.

Er fühlt sich „high von Handlungsmacht“ und wirkt aufgekratzt wie auf Drogen. Tatsächlich sei Lützerath für ihn aber das Gegenteil, sagt Müller, eine Art Reha. „Ich bin Kommunist und hatte den Glauben verloren, bin in ein tiefes Loch gefallen. Da erschien Lützerath wie ein Licht in der Dunkelheit. Es hat mich angezogen wie eine Motte das Licht.“ Müller ist der DJ der Stunde. „Das nächste Lied ist die Revolutionshymne der portugiesischen Nelkenrevolution.“

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Die Polizisten sammeln sich unter dem Fenster und dem provisorischen Vorbau. „Es wird geräumt!“, ruft Antonio Rohrßen von der Berliner Klimaliste. Er und Müller packen hastig ihre Rucksäcke. Sie denken an die juristischen Folgen, wollen keinen Widerstand leisten und auf Aufforderung mitgehen. Aber zunächst rückt die WG zusammen. Durch den düsteren Unterbau, die Türen mit Matratzen und Stempeln verrammelt, Latten kreuz und quer. Oben in die Küche, Kisten mit Möhren und Zwiebeln im Badezimmer, ein verhaustes Matratzenlager. Eine Aktivistin wirft Schokolade, Chips und Thermoskannen in eine Ikeatüte. Der harte Kern zieht sich weiter auf den Dachboden und auf das Dach zurück.

Die Kettensäge kommt

Die Polizisten rücken mit Bolzenschneider, Kreissäge und Kettensäge näher. „Die checken die Tür ab unten“, sagt einer. Tadzio Müller ruft aus dem Fenster, halb auf englisch: „Sonne über Lützerath. Wie bei Herr der Ringe, die Schlacht um Helms Klamm. Schau, wer da über den Kamm reitet!“

Aus dem hinteren Fenster ist die Abbruchkante zu sehen, vielleicht 200 Meter entfernt, dahinter der künstliche Grand Canyon, dahinter die Zukunft: Windräder. „Skypods“ ragen in der zerfahrenen Wiese auf, Baumstämme, auf denen in zehn Metern Höhe Aktivisten ausharren, im weißen Overall, mit einem Rucksack voll Müsliriegeln und Wasser. Sie haben Traversen gespannt zu den Baumhäusern, die Ablösung hangelt sich mit Kletterset heran.

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Eine letzte Umarmung zwischen Müller und Rohrßen. „Okay, puh!“, beide werden schnappatmig, hüpfen sich ruhig. Es ist keine Routine für die beiden. „Ich nehme noch drei Minuten Musikwünsche entgegen“, sagt Müller dennoch. Ein letztes Mal lauthals „Bella Ciao“ aus dem Fenster, Applaus von den Nachbarn im Baumhaus gegenüber. Sie setzen sich auf ein Bett und warten.

Unten springt die Säge an, es poltert aus dem Nebenhaus, durch das Klofenster in der ersten Etage sieht man eine womöglich komplette Hundertschaft. Dann splittert das Glas im Nebenraum. Ein Polizist springt, es knirscht, Kollegen folgen, freundlich aber bestimmt klären sie, wer die drei Pressevertreter, wer die beiden Aktivisten sind. Unten stehen an die 100 Journalisten, über 600 sind akkreditiert. Ihre Zahl ist nun wohl höher als die der Aktivisten. Der ganze Aufwand, er dient vor allem dazu Bilder zu erzeugen und das Narrativ zu stärken: David gegen Goliath. Die Akteure führen dieses Stück nicht routiniert auf, aber die Spielregeln sind ihnen klar. Auf dem Dachboden haben sich drei aneinandergekettet, zwei haben sich festgeklebt, aber das kostet die Polizei nur Minuten.

Konfetti auf dem Dachfirst

Auf dem Dach haben die Aktivisten einen „Monopod“ installiert.
Auf dem Dach haben die Aktivisten einen „Monopod“ installiert. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Deutlich länger benötigt sie, um die letzte Gruppe auf dem Dachfirst abzuführen. Einer hat seine Gitarre mit genommen. Ein Polizist nimmt von innen Ziegel weg, sägt Dachlatten weg, baut einen Durchgang. Er arbeitet zügig, aber ruhig. Die Aktivisten lassen Konfetti knallen, bevor die Kletterer der Polizei jede und jeden sichern, um sie durch die Luke zu bugsieren. Da wären allerdings noch die beiden, die auf einem zweibeinigen Gerüst hocken, das über dem Dach der WG verspannt ist. Es ist der Gipfelsturm für die Polizei. Zeitgleich mit der Dachräumung hat die Polizei wohl den Eingang zum Tunnel gefunden. Dass die Polizei am Freitag noch „Pinky“ und „Brain“ ans Licht holt, ist nicht ausgemacht – aber nicht unwahrscheinlich.

Die Räumung sei auch am dritten Tag vor allem friedlich gelaufen, sagt Polizeisprecherin Cornelia Weber. 470 Aktivisten haben den Weiler inzwischen verlassen, 320 von ihnen „freiwillig“. Polizei und die letzten verbliebenen Besetzer – wie viele es sind, mag die Polizei nicht abschätzen – widmen sich gerade ihren ritualisierten Scharmützeln um einzelne Baumhäuser und Installationen – da tauchen überraschend Greta Thunberg und Luise Neubauer auf. Angekündigt waren sie erst für die Großdemo am Samstag. „Ich war gerade sehr traurig und habe geweint“, ruft ein Aktivist von seinem Baumhaus herunter. „Nun bin ich überwältigt.“

Thunberg sagt ihm staatsfrauisch wie wichtig sein Kampf sei – und in die Kameras: „Deutschland blamiert sich gerade. Es sollte die Kohle im Boden lassen. Es ist ein globaler Kampf. Wir stehen zusammen.“ Schließlich bekommt die Schwedin von ihren Mitstreitern ein weiteres Schild in die Hand gedrückt: „Lützi bleibt!“ Das skandieren sie dann auch: „Bleibt! Bleibt, bleibt, bleibt!“ Greta Thunberg zwinkert dazu, ein ganzes Lächeln wird es nicht.