Grevenbroich. Während Demonstranten ein Kraftwerks-Gleis blockieren, wird am Gericht in Grevenbroich ein ähnlicher Fall verhandelt. RWE will Schaden einklagen.
Der Termin ist Zufall, aber dass die Ereignisse zusammenfallen, hätte man besser kaum inszenieren können: Während am Dienstag vor dem Kraftwerk Neurath Demonstranten die Gleise der Kohlebahn blockieren, verhandelt das Amtsgericht Grevenbroich gegen jemanden, der das schon einmal geschafft haben soll. Hier wie dort geht es nicht um RWE, nicht einmal um die beteiligten Personen, sagt Eike G. auf der Anklagebank, „sondern um die Lebensgrundlage der ganzen Menschheit“. Zwischen beiden Geschichten liegen kaum sieben Kilometer. Und 14 Monate.
Es ist der Aktionstag des Bündnisses, das gegen den Braunkohle-Tagebau kämpft, und der Prozess im kleinen Grevenbroich wirkt wie seine Verlängerung. Vor der Tür eine Mahnwache, drinnen eine Abordnung von Menschen, denen der Schlamm der Protesttage teils noch an den Schuhen klebt. Ein Justizbeamter muss den nicht studierten Rechtsbeistand von Eike G., 24, anhalten, das Stillleben im Saal aus Rucksäcken, Jacken, Beuteln und Trinkflaschen aufzuräumen. G. selbst trägt unter dem schwarzen Kapuzenpulli mit antikapitalistischem Aufdruck ein Kletterseil am Gürtel.
Polizist im Zeugenstand: Zwei Personen haben sich einzementiert
„Klima Schützen ist kein Verbrechen!“, skandieren die Unterstützer rhythmisch, man hört sie durch die Fenster, und es ist dasselbe, was Eike G. sagt: Der Prozess sei der „Versuch, den Widerstand zu kriminalisieren“, Umweltschützer einzuschüchtern, „zu belehren und bekehren“. „Wie kann es sein, dass es Gerichtsverhandlungen gibt gegen Menschen, die sich für das Klima einsetzen?“
Der „angeklagten Person“ – auf die Bezeichnung legt G., die das Wörtchen „divers“ im Pass stehen hat, Wert – wird vorgeworfen, sich am 5. November 2021 auf den Gleisen der Nord-Süd-Bahn zum Kraftwerk, bei Kilometer 23,2, festgemacht zu haben. Nicht gekettet, sondern gleich „gegipst“: Ein Polizist erklärt im Zeugenstand, wie zwei Personen Steine aus dem Gleisbett entfernt und die freien Schienen umarmt hätten. Ihre Arme hätten dabei in Rohren gesteckt, gefüllt mit Nägeln – und Zement. Man habe das Duo in Regen, Kälte und Matsch mit der Flex „befreien“ müssen.
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RWE: Blockade hat keinen Strom gespart und keine Emissionen
„Befreien“, das sagen die Sicherheitskräfte immer, dabei wollen die Demonstranten nicht „befreit“ oder „gerettet“ werden. Sie lassen sich „räumen“ – bei Neurath soll das rund 18 Stunden gedauert haben. 18 Stunden, in denen keine Züge fahren konnten, also keine frische Kohle den Betrieb erreichte. Bei RWE haben sie ausgerechnet, dass dadurch ein Schaden von 1,4 Millionen Euro entstanden sei. In einem späteren Zivilverfahren soll diese Summe eingeklagt werden. Ein Mitarbeiter kann sie „stundenscharf“ belegen: Ausfall durch das Herunterfahren der Blöcke mal Einkauf von Strommengen anderswo minus eingesparte Kosten für Brennstoff. „Es wird ja durch eine solche Blockade nicht weniger Strom verbraucht. Die Emissionen steigen dafür woanders.“
Für die Anklage wegen „Störung öffentlicher Betriebe“ gibt es aus dem Zuschauerraum mehrfach Applaus; nicht für den Staatsanwalt, sondern für Eike G. Es wird kommentiert und geschimpft in Saal 105, unter den romantischen Naturfotos an der Wand, bis Richterin Claudia Zieschang der Kragen platzt: Sie weist einer Frau die Tür. Die aber geht nicht freiwillig, setzt sich im Schneidersitz auf den Boden, Justizbeamte müssen die Zuhörerin hinausschleifen. Genau so, wie zeitgleich die Sitzblockade vor Neurath. Von vorn sieht G. grinsend zu.
Eike G. verteidigt sich engagiert selbst, stellt Anträge, schreibt in einer Verhandlungspause einen Befangenheitsantrag mit der Hand, liest vor aus einem dicken Aktenordner. Daneben liegen dicke Ausgaben von Strafgesetzbuch und -prozessordnung, offenbar ausgeliehen aus einer Bibliothek. Was G. studiert, wovon G. lebt? „Das muss ich Ihnen nicht sagen.“ Dafür will G. von den Zeugen alles wissen, arbeitet im Duo ganze Fragenkataloge ab. „Auf welche Rechtsgrundlage stützen Sie sich?“, wollen sie von einem Polizisten aus einer technischen Einheit wissen, „was ist Ihr persönliches Verhältnis zu RWE?“ – und ob der Beamte jemals selbst etwas für das Klima getan habe?
Weiterer Prozess folgt noch diesen Monat
Es ist fast ein Kreuzverhör, darin geht es auch um die Frage, wer sich wann um die Schürfwunden von G. gekümmert habe. Ob die Polizei solche Verletzungen in Kauf nehme? Der Zeuge war nur Protokollant der Ereignisse, aber er formuliert es so: „Wenn man versucht, der Polizei die Arbeit so schwer wie möglich zu machen, dann muss man damit rechnen.“
Ein Geständnis legt G. mit dem wuscheligen Blondschopf nicht ab. Die „Einlassung“ klingt aber wie eine Erklärung zum Warum – und ein Referat über den Klimawandel, ein Referat über den Klimawandel, das den Bogen von Uganda bis Peru spannt, von Gletscherschmelze und Überschwemmungen erzählt. „Die Justiz hat immer noch nicht verstanden, was auf dem Spiel steht.“ Richterin Zieschang stoppt den Redeschwall („Das ist alles bestens bekannt“), auch der Staatsanwalt beschwert sich: „Das ist hier keine Bühne.“ Nach drei Stunden ist Eike G. der Ermahnungen überdrüssig, es folgt der Befangenheitsantrag gegen die Richterin.
Weil noch weitere Anträge angekündigt sind, wird der Prozess vertagt. In einer Woche, am 24. Januar, geht es weiter. Und ebenfalls noch im Januar wird in Saal 105 eine 36-Jährige erwartet: Sie soll damals neben G. im Gleisbett gelegen haben.