Düsseldorf. Entfremdung von der Klimabewegung: Seit Jahrzehnten kämpft die Öko-Partei in NRW gegen die Braunkohle – und mit eigenen Widersprüchen.
Der Konflikt um Lützerath entfremdet die Grünen von der Klimabewegung und die droht die Partei gerade zu zerreiben. Wie es soweit kommen konnte, zeigt die Rekonstruktion eines langen Weges voller Widersprüche im Umgang mit der Braunkohle.
1995: Die NRW-Grünen werden neuer Regierungspartner von Ministerpräsident Johannes Rau (SPD). Sie haben sich auf die Fahne geschrieben, die Betriebsgenehmigung für den neuen 48 Quadratkilometer großen Tagebau Garzweiler II im Rheinischen Revier zu verhindern. Im Koalitionsvertrag sichert die „Kohle-Partei“ SPD den Grünen zu, mit der Genehmigung zu warten, bis der NRW-Verfassungsgerichtshof über letzte Klagen entschieden hat.
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1998: Der NRW-Wirtschaftsminister und spätere Rau-Nachfolger Wolfgang Clement (SPD) hat den Rahmenbetriebsplan für Garzweiler II genehmigt. Die Grünen bleiben nach kontroverser innerparteilicher Debatte trotzdem in der Regierung. Das gilt als Signal der realpolitischen Orientierung und Vorbereitung einer rot-grünen Koalition im Bund. Der Tagebau wird 2006 aufgeschlossen.
2014: Die Regierungspartner SPD und Grüne beschließen, Garzweiler II um etwa ein Fünftel zu verkleinern. Die Ortschaften Holzweiler, Dackweiler und das Gehöft Hauerhof mit insgesamt etwa 1400 Bewohnern werden entgegen bisheriger Planung nicht mehr umgesiedelt. Zugleich wird RWE zugesichert, bis mindestens 2030 im Rheinischen Revier jährlich noch 100 Millionen Tonnen Kohle fördern zu dürfen.
2014/15: Da Gewerkschaften und die Opposition aus CDU und FDP durch die Verkleinerung von Garzweiler II Arbeitsplätze und Energieversorgung gefährdet sehen, betonen selbst die Grünen einen Teil ihres Deals mit der SPD, der noch wichtig werden sollte: Die drei Tagebaue Garzweiler, Hambach und Inden zusammen hätten ja noch 3,2 Milliarden Tonnen Braunkohlereserven, die gefördert werden dürften.
Die Kehrtwende beim Hambacher Forst
2016: Rot-Grün beschließt eine neue Leitentscheidung, in der heißt es: „Der Braunkohlenabbau in den Tagebauen Garzweiler II, Hambach und Inden in Nordrhein-Westfalen ist zur langfristigen Energieversorgung weiter erforderlich.“ Einwendungen von Bürgern, bitte den Rest des seit Jahren immer weiter gerodeten Hambacher Forsts zu erhalten, werden nicht berücksichtigt. Man wolle lieber die Umsiedlung von Menschen im Planungsgebiet von Garzweiler II verhindern, heißt es bei Rot-Grün.
2018: Die Grünen bestreiten plötzlich, dass die Abholzung des Hambacher Forsts Teil des rot-grünen Deals von 2014 gewesen sei und schließen sich der immer größer werdenden Protestbewegung „Hambi bleibt“ an. Sie starten eine Kampagne gegen den neuen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), der den Wald ohne Not opfern wolle. Das Oberverwaltungsgericht stoppt die Rodung in letzter Minute. Es sei nicht ausreichend geprüft worden, ob der Wald wegen des Vorkommens der Bechsteinfledermaus nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) unter Schutz stehe.
2021: Mit dem Erhalt des Hambacher Forsts und der Verkleinerung des dortigen Tagebaus wächst der Druck auf das benachbarte Gebiet Garzweiler II. Die Grünen demonstrieren trotzdem gemeinsam mit Klimaschützern für den Erhalt des dortigen Weilers Lützerath, der vorwiegend von Aktivisten bewohnt wird. Die Grünen-Vorsitzende Mona Neubaur lässt sich an der Tagebaukante mit dem gelben Kreuz von „Ende Gelände“ fotografieren.
März 2022: Das Oberverwaltungsgericht urteilt letztinstanzlich, dass RWE das Recht hat, die Kohle unter Lützerath zu verstromen.
Im Wahlkampf 2022 wird Lützerath plötzlich nicht mehr namentlich erwähnt
Mai 2022: Die Grünen machen mit der Aussage „Alle Dörfer bleiben!“ Landtagswahlkampf, erwähnen Lützerath aber nicht mehr namentlich.
Juni 2022: Im schwarz-grünen Koalitionsvertrag wird Lützerath nicht erwähnt. Auf mehrfache Nachfrage sagt die designierte Vize-Ministerpräsidenten Neubaur, „dass wir im Einvernehmen mit dem Tagebau treibenden Unternehmen eine Lösung finden wollen, die so flächensparsam wie möglich weitere Auskohlung des Tagebaus ermöglicht“. Der Kleine Parteitag der Grünen stimmt dem Koalitionsvertrag mit der CDU zu.
August 2022: Die großen Umweltschutz-Organisationen fordern die neue NRW-Wirtschaftsministerin Neubaur ultimativ auf, dem Energiekonzern RWE die Ausweitung des Tagebaugebietes Garzweiler II zu verweigern. Der RWE-Antrag auf Zulassung eines neuen Hauptbetriebsplans müsse abgelehnt werden.
Oktober 2022: Neubaur und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vereinbaren mit RWE-Chef Markus Krebber im Lichte des Ukraine-Krieges einen Kompromiss: Die Kohleverstromung in NRW endet 2030, und 280 Millionen Tonnen Kohle des ursprünglichen Abbaugebietes bleiben im Boden. Dafür darf RWE zwei zur Abschaltung vorgesehene Kraftwerke in Neurath bis 2024 laufen lassen und Lützerath abbaggern.
"Lützi" als Glaubwürdigkeitstest fürs Klima lange unterschätzt
November 2022: Warnungen, dass die Klimabewegung „Lützi“ zum Glaubwürdigkeitstest für das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens stilisieren könnte, werden von der Grünen-Spitze in NRW weggewischt. An einen „zweiten Hambi“ - nur diesmal mit den Grünen auf der falschen Seite der Barrikade - glaubt kaum einer.
Januar 2023: Zahlreiche Grüne schließen sich den Massenprotesten gegen die begonnene Räumung von Lützerath an. Die Grünen-Spitze erklärt, Lützerath sei rein rechtlich seit dem OVG-Urteil vom März 2022 gar nicht mehr zu retten gewesen. Die Umweltbewegung wirft Neubaur indes vor, den tatsächlichen Braunkohlebedarf nicht unabhängig geprüft und juristische Hebel des Bergrechts zur Verringerung der Flächeninanspruchnahme ungenutzt gelassen zu haben.