Lüdenscheid. Seit einem Jahr ist die Rahmede-Talbrücke der A45 in Lüdenscheid gesperrt. Anwohner nennen es einen Albtraum – die Wirtschaft ein Desaster.
Seit einem Jahr herrscht Ausnahmezustand - in der Sauerland-Stadt Lüdenscheid, in angrenzenden Kommunen und in Südwestfalen als drittstärkster Wirtschaftsregion Deutschlands. Grund ist die marode Talbrücke Rahmede an der A45, die es seit ihrer Vollsperrung am 2. Dezember 2021 zu trauriger Bekanntheit gebracht hat.
Die bundesweit wichtige Nord-Süd-Achse ist seitdem unterbrochen – mit gravierenden Folgen für Anwohner, Pendlerinnen, Beschäftigte und Unternehmen in einem großen Radius. Wie lange es dauert, bis ein komplizierte Neubau der 450 Meter langen und 75 Meter hohen Brücke steht, ist ungewiss.
Stau, Lärm, Dreck, Feinstaub: Anwohnende leiden
Anwohnende sind gesundheitlich arg belastet durch Lärm und Abgase tausender Fahrzeuge, auch schwerer Lkw. Die donnern täglich zusätzlich über die Umleitungsstrecken durch Lüdenscheid, direkt an Wohnhäusern vorbei. Viele können nachts kaum noch schlafen, schildert Heiko Schürfeld von der „Bürgerinitiative A45-Lüdenscheid.“
Die Feinstaubbelastung mache zu Schaffen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei verletzt - zugunsten des „Rechts auf freie Durchfahrt“ für überregionalen Transitverkehr, kritisiert er. Mobile Pflegedienste kommen nicht durch, angestellte Lehrer wandern ab, Geschäfte und Betriebe machen Verluste, Lieferketten sind gestört, beklagt Schürfeld. „Die Stadt stirbt, eine ganze Region stirbt.“
Neubau soll "schnellstmöglich" fertig sein – Sprengung verzögert sich
Der Neubau soll schnellstmöglich vorangetrieben werden, sagen Bund, Land und Autobahn GmbH. Mit einer von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) für 2022 versprochenen Sprengung wird es aber nichts. „Auch wenn das mit der Sprengung nicht so schnell geklappt hat wie wir uns das vorgestellt haben, hat das keinerlei Einfluss auf Planung und Neubau“, versichert Staatssekretär Oliver Luksic. Denn Baurechtsverfahren und Vergabeverfahren liefen davon unabhängig und parallel.
Die Autobahn GmbH betont, man komme voran. Umweltbelange seien abgearbeitet, man habe „mit allen Grundstücksbetroffenen Einvernehmen“ erzielt, sagt Westfalen-Niederlassungsleiterin Elfriede Sauerwein-Braksiek. An der Baustelle auf fast alpinem Gelände laufen Fällarbeiten. Hänge werden abgesichert. Versorgungsleitungen an angrenzenden Straßen, ebenso wie Wohnhäuser und ein Betrieb in Brückennähe sind zu schützen. Ein riesiges Fallbett für das Bauwerk soll angelegt werden.
Ungeduld und Verärgerung wachsen: „Nerven liegen blank“
Aber Ungeduld und Verärgerung wachsen. „Die Nerven liegen blank“, berichtet Schürfeld. Einen „Endzeitpunkt“ für den Neubau könne man noch nicht nennen, meint Luksic. Wann der Verkehr wieder rolle, wisse man erst, „wenn wir das finale Angebot des ausführenden Unternehmens“ haben. Kurz nach der Sperrung war als Ziel eine fünfjährige Bauzeit genannt worden.
Der Lüdenscheider Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (SPD) spricht vage vom Frühjahr 2023 für die Sprengung. Der wirtschaftliche Schaden und die Belastungen für alle seien gravierend. Die Zahl der Lkw müsse reduziert werden. Bund und Land sollten mehr helfen, die Region brauche einen Schadensausgleich. Am Montag will Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) auch mit Betroffenen in Lüdenscheid sprechen.
Durchfahrt verboten? Lkw verstopfen enge Anliegerstraßen
„Es ist ein Albtraum“, erzählt ein Anwohner, dessen Haus von allen Umleitungsstraßen umzingelt ist. „Wir werden Tag und Nacht gestört, vor allem von den durchfahrenden Lastwagen.“ Auch an engen Anliegerstraßen, auf denen Durchgangsverkehr verboten sei, verstopften Lkw die Wege. Das Unfallrisiko sei enorm. Es gebe kaum Fortschritte, bemängelt der 65-Jährige. Von der Politik ist er enttäuscht. „Es ist frustrierend, dass im Verkehrsministerium niemand den Mut hat, konsequent durchzuziehen, koste es was es wolle.“
Am Anfang sei nichts passiert. „Weil die Haselmaus ihren Winterschlaf hatte. Aber dass die Menschen nachts nicht schlafen können, scheint niemanden zu stören. Alle werden nur vertröstet.“ Es brauche mehr Tempo bei dem Projekt, ein sofortiges Nachtfahrverbot und ein Stopp des Transitverkehrs, verlangt der Anwohner. Umleitungen über andere Autobahnen müssten besser ausgeschildert werden.
IHK: Wirtschaftlicher Verlust von knapp 2 Mrd. Euro
Bei der südwestfälischen Industrie- und Handelskammer heißt es, die Lage für die regionale Wirtschaft sei katastrophal. Auf fünf Jahre gerechnet, sei einer Studie zufolge mit „negativen ökonomischen Effekten“ von 1,8 Milliarden Euro zu rechnen, schildert ein SIHK-Sprecher. Arbeitskräfte kehrten der Region den Rücken: „Wer eine andere Möglichkeit findet, kündigt.“ Auch Ausbildungsbetriebe seien in Not. Es finde sich kaum Nachwuchs, der bereit sei, stets im Dauerstau zu stehen.
Die Bürgerinitiative protestiert regelmäßig in der 72 000-Einwohner-Stadt - und blickt pessimistisch in die Zukunft. Auch der 65-jährige Anwohner ist inzwischen desillusioniert: „Ich habe keine Hoffnung. Und dass wir in fünf Jahren wieder eine neue Brücke haben werden, glaubt hier in Lüdenscheid sowieso keiner mehr.“ (dpa)
Weitere Nachrichten aus NRW finden Sie hier:
- Unwetter überrascht Wetterexperten: „Selten so etwas erlebt“
- Prozess: Maler-Star Löwentraut verklagt Galerie um halbe Million Euro
- Studie: Sind Männer, die ihre Frauen töten, keine Mörder?
- Ex-Polizeichef zu Clankriminalität: Der Staat wird verhöhnt
- DogwalkerEssen: Mach' Deinem Hund keinen Platz!