Ruhrgebiet. Nach den NSU-Morden rollen NRW-Ermittler geklärte und ungeklärte Fälle auf. Alles Ungelöste soll auf den Prüfstand. Die Beamten wollen sich nicht nachsagen lassen, sie seien auf dem rechten Auge blind. Rechte Täter wurden bisher nicht gefunden. Trotzdem scheint die Aktion ein Erfolg zu werden.

Der 27. Dezember 1992 ist ein Sonntag, die Autobahn A 57 bei Meerbusch fast leergefegt in den frühen Morgenstunden. Sahin C. und zwei türkische Begleiter sind in C.’s Wagen unterwegs, als ihr Albtraum beginnt: Ein Fremder rammt das Auto der Türken, zwingt sie zum Anhalten. C. springt mit den beiden Mitfahrern aus Angst auf die Straße. Ein drittes Fahrzeug kann nicht mehr bremsen, fährt C. an, und der stirbt. „Das mit dem Herumlaufen hat sich für ihn erledigt“, sagt der Amokfahrer Klaus E. über sein Opfer. E. ist „Ordner“ bei der rechtsextremen „Deutschen Liga für Volk und Heimat“.

Alles Ungelöste und alle Zweifel sollen auf den Prüfstand

E. hat für sein Verhalten mit 15 Monaten wegen fahrlässiger Tötung gebüßt. Doch die Akte des Vorgangs auf der A57, der knapp 22 Jahre zurückliegt, ist jetzt Teil polizeilicher Nachprüfung. Zu beantworten ist, was das Gericht damals nicht erkannte: Hat E. aus ausländerfeindlichen oder rechtsextremen Motiven gehandelt?

Seit dem Aufdecken der falsch gelaufenen Ermittlungen der zehn Morde der rechtsextremen „Zwickauer Zelle“ (NSU) stellen sich solche Fragen neu. Die Länderinnenminister wollen sich nicht nachsagen lassen, sie seien rechts blind. Alles Ungelöste und alle Zweifel sollen auf den Prüfstand – auch, wenn neue Erkenntnisse nicht zum neuen Prozess führen, sondern nur zu einer anderen Bewertung der Statistik.

So ist ihr Kriterien-Katalog zusammengebaut: Waren Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund die Opfer? Waren jüdische oder islamische Religion der Opfer ein Motiv für den Täter? Sind die Toten Aussteiger aus der rechten Szene gewesen, Linke, Schwule, Obdachlose oder Sexualstraftäter? Deutsche, die Ausländer liebten? Oder eben Vertreter des gehassten Staates?

Eine Leiche wurde ausgegraben und untersucht

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Das Paket, in der die Akte des Todesfalls Sahin C. schlummert, ist umfangreich. Alles in allem 3330 Fälle waren nach einem Beschluss der Politik bundesweit auf aktuelle Hinweise oder solche rechtsextremen Motive zu checken: alles Tötungsdelikte, versuchte und vollendete, aufgeklärte oder solche, die nie aufgeklärt wurden.

Ein Teil der Arbeit ist getan. Das sind die unaufgeklärten Vorgänge. 745 bundesweit. 137 in NRW. Berge von Papier sind von den Landespolizeien durchforstet, DNA-Proben neu erhoben, Zeugen einbestellt worden. 83 Verfahrensakten der Staatsanwaltschaft durchleuchtete die NRW-Polizei und 18 Polizeiunterlagen. An Rhein und Ruhr, sagt Frank Scheulen vom Landeskriminalamt (LKA), seien bei den ungeklärten Fällen „keine Hinweise auf neonazistische oder rechtsextreme Tatmotive festgestellt worden“.

DNA-Spuren führen zu bisher unbekannten Tätern

Aber der Polizei ist der Zufall zur Hilfe gekommen. In drei der untersuchten Fälle haben neue DNA-Spuren zu Menschen geführt, die nach heutigem Wissen nicht rechtsextrem denken, aber vielleicht Totschläger oder Mörder aus ganz anderen Motiven waren. Sieben Zeugen wurden deshalb vernommen, eine Leiche wurde exhumiert und einer Isotopenuntersuchung unterzogen. Drei lange ungeklärte Gewaltverbrechen könnten vor der Aufklärung stehen. Wer wo was getan haben könnte? Noch schweigt das LKA dazu.

Deutschland ist ein sicheres Land. 700 Tötungsdelikte werden im Schnitt im Jahr gemeldet. Die Aufklärungsquote ist mit 95 Prozent hoch. Doch tun sich Richter und Staatsanwälte oft schwer, politische Motive von Kapitalverbrechen zu benennen. In Ostdeutschland ist das spürbar so. In NRW scheint es nicht ausgeschlossen, wie die nächste Phase der „AG Fallanalyse“ zeigen könnte.

Bochumer Rentner starb nach einem Skinhead-Angriff

Sie beschäftigt sich nicht nur mit Sahin C. Im Jahr 2000 wurden bei Dortmund drei Polizisten getötet. Der Täter, der Selbstmord beging, war Neonazi. In Overath starben 2003 drei Mitarbeiter einer Anwaltskanzlei. Ihr Mörder trug am Hemd SS-Runen. Der Rentner Josef Gera erlag 1997 Verletzungen, die ihm Skinheads auf dem Bochumer Krupp-Gelände mit dem Rohr beigebracht hatten. Sie hätten es „einem Schwulen gezeigt“, riefen sie und hoben den Arm zum Gruß. Rechte Motive haben die Gerichte in diesen Fällen ausgeschlossen. Doch: War es wirklich so?

Bilder zum NSU-Prozess

Der zweite Verhandlungstag im Prozess gegen die Neonazi-Terrorgruppe NSU hat begonnen.
Der zweite Verhandlungstag im Prozess gegen die Neonazi-Terrorgruppe NSU hat begonnen. © REUTERS
Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wird wieder dem Richter vorgeführt.
Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wird wieder dem Richter vorgeführt. © TA
Mit Zschäpe stehen vier mutmaßliche Helfer der Terrorzelle vor Gericht.
Mit Zschäpe stehen vier mutmaßliche Helfer der Terrorzelle vor Gericht. © REUTERS
Bevor der Prozess fortgesetzt wird, spricht Zschäpe mit ihrem Anwalt Wolfgang Heer.
Bevor der Prozess fortgesetzt wird, spricht Zschäpe mit ihrem Anwalt Wolfgang Heer. © REUTERS
Die Anwälte der Ermordeten werfen den Verteidigern der Hauptangeklagten Beate Zschäpe vor, den Prozess zu verschleppen.
Die Anwälte der Ermordeten werfen den Verteidigern der Hauptangeklagten Beate Zschäpe vor, den Prozess zu verschleppen. © REUTERS
Der erste Prozesstag gegen die rechte Terrorgruppe NSU: Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ....
Der erste Prozesstag gegen die rechte Terrorgruppe NSU: Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe .... © REUTERS
.... betrat ohne Handschellen den Gerichtssaal. Ihr wird ...
.... betrat ohne Handschellen den Gerichtssaal. Ihr wird ... © REUTERS
... die Mittäterschaft an den Morden und Anschlägen der rechtsradikalen Untergrundgruppe vorgworfen. Die beiden mutmaßlichen anderen Mittäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begingen  vor ihrer Verhaftung Selbstmord.
... die Mittäterschaft an den Morden und Anschlägen der rechtsradikalen Untergrundgruppe vorgworfen. Die beiden mutmaßlichen anderen Mittäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begingen vor ihrer Verhaftung Selbstmord. © dpa
Mitangeklagt sind vier mutmaßliche Helfer der Terrorgruppe wie André E., Holger G., Carsten S., der die Tatwaffe besorgt haben soll, und der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben.
Mitangeklagt sind vier mutmaßliche Helfer der Terrorgruppe wie André E., Holger G., Carsten S., der die Tatwaffe besorgt haben soll, und der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben. © Getty Images
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Beate Zschäpe mit ihren Anwälten Anja Sturm (r.), Wolfgang Heer and Wolfgang Stahl (l.).
Beate Zschäpe mit ihren Anwälten Anja Sturm (r.), Wolfgang Heer and Wolfgang Stahl (l.). © REUTERS
Die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Prozess sind enorm. Das Verfahren gilt als größter Terroristenprozess seit der juristischen Aufarbeitung der linksradikalen RAF.
Die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Prozess sind enorm. Das Verfahren gilt als größter Terroristenprozess seit der juristischen Aufarbeitung der linksradikalen RAF. © Getty Images
Hunderte Journalisten aus der ganzen Welt beobachten das verfahren. Im Gerichtssaal selbst ...
Hunderte Journalisten aus der ganzen Welt beobachten das verfahren. Im Gerichtssaal selbst ... © AFP
... sind nur 50 Plätze für Presse vertreter reserviert. Das Verfahren zur Vergabe der Plätze hatte für Proteste gesorgt - und musste nach einem Urteil des Verfassungsgerichtes wiederholt werden.
... sind nur 50 Plätze für Presse vertreter reserviert. Das Verfahren zur Vergabe der Plätze hatte für Proteste gesorgt - und musste nach einem Urteil des Verfassungsgerichtes wiederholt werden. © dpa
Vor dem Prozessgebäude kam es zum Teil zu ...
Vor dem Prozessgebäude kam es zum Teil zu ... © dpa
... tumulartigen Szenen und Demonstrationen gegen rechte Gewalt.
... tumulartigen Szenen und Demonstrationen gegen rechte Gewalt. © AFP
Eine junge, türkischstämmige Frau versucht gewaltsam in die Bannmeile vor dem Gericht einzudringen und wird von Polizisten abgeführt.
Eine junge, türkischstämmige Frau versucht gewaltsam in die Bannmeile vor dem Gericht einzudringen und wird von Polizisten abgeführt. © dpa
Adile Simsek (L), Witwe des von der NSU ermordeten Enver Simsek mit ihrer Rechtsanwältin - die Hinterbliebenen der Terroropfer sind als Nebenkläger vor Gericht vertreten.
Adile Simsek (L), Witwe des von der NSU ermordeten Enver Simsek mit ihrer Rechtsanwältin - die Hinterbliebenen der Terroropfer sind als Nebenkläger vor Gericht vertreten. © REUTERS
Die Anwälte von Beate Zschäpe auf dem Weg ins Gerichtsgebäude:  Wolfgang Stahl, Anja Sturm and Wofgang Heer (von links).
Die Anwälte von Beate Zschäpe auf dem Weg ins Gerichtsgebäude: Wolfgang Stahl, Anja Sturm and Wofgang Heer (von links). © AFP
Die Angeklagte Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten kommen in einem Fahrzeugkonvoi zum Gericht in München.
Die Angeklagte Beate Zschäpe und die vier Mitangeklagten kommen in einem Fahrzeugkonvoi zum Gericht in München. © dpa
Die Angeklagten auf dem Weg ins Gerichtsgebäude.
Die Angeklagten auf dem Weg ins Gerichtsgebäude. © Getty Images
Die Angeklagten auf dem Weg ins Gerichtsgebäude
Die Angeklagten auf dem Weg ins Gerichtsgebäude © REUTERS
Proteste gegen rechtsradikale Gewalt vor dem Prozess.
Proteste gegen rechtsradikale Gewalt vor dem Prozess. © REUTERS
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