Ruhrgebiet. Die Städte sollen den Lärmschutz ausbauen, verlangt die EU. Doch das Geld ist einfach nicht da. Rechnet man die Lärmkataster mehrerer Ruhrgebietsstädte hoch, dann leben bis zu 200.000 Menschen in der Region unter zu großer Beschallung. Manchen freilich macht es auch nichts aus.
Familie Rentenatus wohnt nicht auf der Autobahn, nein, das wäre übertrieben: Das sind bestimmt 15 Meter von ihrem Haus im Essener Norden zum Damm der A 42. So nah ist das, dass das typische Rauschen, das Hunderttausende Ruhrgebietler ständig im Hintergrund hören, hier in seine Bestandteile zerfällt. „Lkw haben ihre privaten Geräusche“, sagt Janusch Rentenatus (40) und imitiert das Flattern von Planen und das Klappern von Aufbauten. Er kann das gut. Er hört es ständig.
Das Ruhrgebiet ist laut. 5,2 Millionen Menschen. Zehn Autobahnen. Schienen. Flughäfen. Industrie. Doch ist es auch lärmig? „Lärm ist unerwünschter Schall, also subjektiv,“ sagt Lärmforscher Rainer Guski von der Ruhr-Uni Bochum. Objektiv werde Lärm erst, wenn er die Grenze überschreite zu Stress und Gesundheitsgefährdung. Wie es darum steht, versucht die EU herauszufinden. Viele Städte mussten daher neue Lärmkataster erstellen, und aus denen geht jetzt hochgerechnet hervor: Um 150- bis 200 000 Menschen im Ruhrgebiet herum ist es ständig zu laut.
Grenzwerte bei 70 Dezibel am Tag und 60 bei Nacht
Wie bei Rentenatus im Garten, wo sie sich von einer gewissen Distanz an anschreien müssen (und damit Lärm machen). Innen schützen Lärmschutzfenster, „aber man will die ja auch mal aufmachen.“ Als das Ehepaar her zog, war die A 42 leiser; der Mathematiker Rentenatus hatte das messen lassen vor dem Kauf. Und im April 2013 wieder. Da lagen die Werte über der Grenze. Es war praktisch die Geburtsstunde der „Bürgerinitiative A42“, die hier besseren Schutz fordert. Sieben Meter hohe Wände. „Wer keinen Druck macht, wird als Letzter behandelt“, sagt Rentenatus. 2015 wird das Land hier bauen. Genau 40 Jahre, nachdem die bisherigen Drei-Meter-Wände entstanden. Die hatte damals – eine Bürgerinitiative durchgesetzt.
Wo dauerhaft 70 Dezibel am Tag oder 60 nachts überschritten werden, „sollen“ die Städte Lösungen finden: Und beim „sollen“ liegt der Haken. Das Geld ist nicht da, allen Lärmbelästigten zügig zu helfen. Mülheim etwa (4600 Betroffene) will Flüsterasphalt auftragen, wenn ein Straßenbelag sowieso saniert wird – das kann dauern. Die Landesregierung spricht für NRW von 650 000 Menschen, deren Umgebungslärm sie krank machen könnte. Herz, Kreislauf, Ohren.
„Das Haus bewegt sich“
Im letzten Jahr hat die Walporzheimer Straße in Duisburg ihre Schlafzimmer nach vorne verlegt, an die Straße. Hinten schlief man lange ganz gut mit einem maroden Güterzuggleis, aber das wurde modernisiert Ende 2012, ein zweites wieder in Betrieb genommen und ein drittes angekündigt. Seitdem fahren mehr Züge schneller und lauter vorbei. „Früher machte man die Tür zu“, sagt Petra Petrak: „Heute sind Lärm und Vibration so stark, das Haus bewegt sich.“
An vielen Stellen im Ruhrgebiet wehren sich Menschen gegen Bahnlärm. Güterzüge sind lauter als Personenzüge, und wegen der Konjunktur rollen derzeit viele. Nun haben die Leute aus der Walporzheimer Straße sich schon an die Bahn gewandt, die Stadt, die Politik, die Juristerei (wo sie zumindest erfuhren, dass sie keinen Rechtsanspruch auf Lärmschutz haben, weil es keine Neubaustrecke ist). Ansonsten aber tut sich wenig, „ich glaube, wir werden auf die lange Bank geschoben“, sagt Rolf Hansen: „Hier will keiner weg, aber wenn es so weitergeht . . .“
„Der Himmel kreischt über Vorhalle“
Es gibt Fortschritte. Die 90er-Jahre waren noch weit lauter: Seither ging Industrielärm zurück. Der riesige Güterbahnhof Hagen-Vorhalle nutzt bald eine Technik, die ihn still macht – bisher „kreischt der Himmel über Vorhalle“, so die Zeitung. Oder Mintard: Die A-52-Brücke ist saniert, nun ist es doch leiser in Mülheims südlichstem Vorort.
Die Leichts hingegen wohnen ganz im Norden, wo Mülheim am lautesten ist: auf der Verbindungsstraße, parallel zur A 40, in einem Reihenhaus ohne Lärmschutzwand. Gehen sie an die Kante ihres Gärtchens, schauen sie hinab in die 4,50 Meter tiefer liegende Straße. „Ich kann hier sitzen, aber ein Fremder?“, sagt Leicht. Freilich gibt es einen Gewöhnungseffekt, „wir hören das kaum noch.“ Und als 2010 das Stillleben war, die A 40 einen Tag verkehrsfrei, „da konnten wir nicht einschlafen“.
„Lärm kann auch krank machen, wenn man sich daran gewöhnt hat“, sagt Guski. Beweis: die Walkman-Opfer. Ob auch vertrauter Umweltlärm krank macht, sei „nicht so klar“. Ach, Gewöhnung. Ein Bochumer lebte kurz in einem Dorf im Sauerland: Wenn er da abends raus sah, war es stockdunkel und totenstill. War das furchtbar. Es machte aber nicht krank.