Duisburg/Dortmund. . Sex kann man hierzulande kaufen wie im Supermarkt. Doch ein normales Gewerbe ist die Prostitution beileibe nicht. Sklavenmarkt, sagen die einen - und wollen das Sexgewerbe auf lange Sicht abschaffen. Arbeitsplatz sagen die anderen. Ein Blick aufs Milieu.

Es ist wie an der Fleischtheke, das Rotlicht der Vulkanstraße soll die Ware frisch und rosig scheinen lassen. Wer in diese Neonblase eintaucht und sich in den Gängen der Duisburger Laufhäuser zum Ziel maskenhaften Lächelns und standardisierter Lockrufe macht, dem schwindet schnell der Realitätssinn: die Welt reduziert auf eine Farbe. Moral reduziert auf Geld. Mitgefühl reduziert auf Oberfläche.

Was man sieht, ist seltsam gesittet: zweckmäßige Fliesen, ausreichend Parkplätze, „Sexy Girls“ im Sonderangebot – man trifft sich am Dönerstand für den Hunger danach. Einfach alles in diesem riesigen Häuserblock erinnert an einen Supermarkt. Die Filialleiter tragen die Kutten der Bandido-Rocker und tippen vor ihrer Bar „Fat Mexican“ friedlich in die Taschencomputer. Die Effizienz dieser Verrichtungsfabrik lässt das Kaufen von Sex verblüffend normal erscheinen. 30 Euro mit Kondom, 50 ohne; sogar Geldautomaten gibt es.

Der „Appell gegen Prostitution“

Und diese bundesdeutsche Normalität will Alice Schwarzer jetzt zerstören. Mit ihrer Zeitschrift „Emma“ hat sie einen „Appell gegen Prostitution“ aufgesetzt; von Heiner Geißler bis Wolfgang Niedecken, von Maria Furtwängler bis Sarah Wiener sind sich die 90 prominenten Erstunterzeichner einig: Prostitution ist Sklaverei. Und Deutschland ist zum größten Sklavenmarkt Europas geworden, seitdem die rot-grüne Regierung 2002 den Sexhandel legalisierte. Gefordert wird eine erneute „Regulierung“ des Marktes, mehr Prävention und Aufklärung, sowie „Maßnahmen, die langfristig zur Abschaffung des Systems Prostitution führen“. Zum Beispiel die Bestrafung von Freiern. Und nun tobt die Debatte.

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Denn die Befürworter des jetzigen Systems sagen: „Das ist völlig daneben. Es gibt Menschenhandel, keine Frage. Aber der Umfang ist bei weitem nicht so hoch, wie immer behauptet wird. Und er wird nicht verschwinden, wenn wir die Prostitution wieder kriminalisieren.“ Gisela Zohren ist Streetworkerin der evangelisch getragenen Mitternachtsmission in Dortmund. Sie hat früher selbst als Domina gearbeitet. Ihrer Einschätzung nach hat die Legalisierung den Prostituierten bessere Arbeitsplätze verschafft und mehr Sicherheit gegeben.

Die Frauen können sich jetzt krankenversichern. In die Rentenversicherung einzahlen. Und ihren Lohn einklagen. Theoretisch.

Das „Überangebot“ macht die Preise kaputt

Praktisch muss ein Laufhaus an der Vulkanstraße weniger Auflagen erfüllen als die Dönerbude davor. Die Prostituierten sollen 18 sein. Das ist alles. Darum ist Deutschland so attraktiv geworden als Sexstandort, dass heute deutlich mehr Frauen zu mieten sind als vor der Legalisierung. Zugleich ist der Anteil der ausländischen Prostituierten auf geschätzte 60 bis 80 Prozent gestiegen ist. Das „Überangebot“ macht die Preise kaputt. Viele Frauen sehen sich nun gezwungen, extremeren Praktiken zuzustimmen. Und die Freier wissen das genau. In Bochum und Herne werben neuerdings sogar Flatrate-Puffs mit ganz normalen Großplakaten. Die Frauen, die hier „arbeiten“ müssen oft Dutzende Freier in einer Nacht akzeptieren.

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So funktioniert die Marktwirtschaft, sagen die Verteidiger der Prostitution, alles beruhe ja auf Freiwilligkeit. Aber was heißt hier freiwillig?

Der Verein Solwodi kümmert sich um die Opfer von Menschenhandel. Die meisten werden von der Polizei vermittelt. Typisch ist der Fall der 22-jährigen Antanasia* aus Osteuropa. Sie hat in Duisburg angeschafft:

„Das Schlimmste war, dass es kein Tageslicht gibt. 24 Stunden wie in einem Gefängnis. Um das alles auszuhalten, habe ich mir ein neues zweites „Ich“ geschaffen. Ich habe mir einen neuen Namen gegeben. Mit Alkohol und Drogen konnte ich den Ekel und die Angst besser verkraften. Ich hatte doch keine andere Wahl. Ich kam da nicht raus. Meine Schulden waren wie ein Gefängnis. Nein, er hat mich nicht erpresst. Geschlagen hat er mich auch nicht. Ich war freiwillig da. Er hat mir doch geholfen. Er wollte doch nur, dass ich Geld verdiene ... für mich und für mein Kind zu Hause und für ihn … Doch irgendwann war ich am Ende. Ich wollte nur noch weg. Ein Kunde hat mir bei der Flucht geholfen. Er brachte mich zur Polizei, aber ich konnte ja nichts aussagen. Alles war ja freiwillig.“

Und ohne Aussage keine Strafanzeige.

Solwodi-Beraterin Helga Tauch erlebt in vielen Gesprächen, dass die Mädchen und Frauen „in eine Beziehungsabhängigkeit gelockt werden. Die Schlepper sind ja findig. Sie wissen genau, wie man Menschen konditioniert. Es funktioniert einfach ... so wie man Tiere dressiert.“ Nur die wenigsten Opfer werden laut Landeskriminalamt entführt, die meisten verstehen schon bei der Anwerbung, dass sie anschaffen sollen. Aber getäuscht und gedrängt, terrorisiert und gebrochen, eingeschüchtert und bewacht werden sie meist doch an irgendeinem Punkt. Tauch sagt: „Der Begriff Freiwilligkeit ist ein falsches Etikett auf die tragische Lebenswirklichkeit von Frauen.“

Übrig bleibt ein Häuflein Elend

Sie registriert, dass die Zahl der psychisch kranken Frauen stark zunimmt. „Sie bleiben als Häuflein Elend über. Und die, die es noch gut wegpacken, sind oft mit Missbrauchsbiografien unterwegs. Sie haben früh gelernt, ihre Sexualität abzuspalten.“

Was hat nun die Legalisierung bewirkt? Selbst die Erfahrungen der Polizei widersprechen sich. Für Dortmund, wo sie stark auf Aufklärung und Kooperation setzt, sagt Sprecher Wolfgang Wieler, dass die Legalisierung „eindeutig förderlich“ war. Dass „Straftaten ganz anders zur Anzeige gebracht werden.“ Das Landeskriminalamt dagegen schreibt, die Legalisierung der Prostitution habe „die soziale Lage der Opfer von Menschenhandel nicht nachhaltig verändert“.

Fakt ist: Kontrollen gibt es kaum noch. Denn früher war die „Förderung der Prostitution“ strafbar, heute ist es nur noch die „Ausbeutung der Prostituierten“. Früher konnten die Strafverfolger den allgemein gehaltenen Tatbestand vergleichsweise leicht als Hebel benutzen; Ausbeutung dagegen ist fast nur unter Mithilfe der Opfer nachzuweisen. Und die sind meist zu eingeschüchtert oder abhängig, um auszusagen. Früher war es für Bordellbetreiber riskant „gute Arbeitsbedingungen“ zu schaffen. Die Puffs von heute sind besser ausgestattet, größer und effizienter.

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Die überwiegend rumänischen und bulgarischen Frauen lassen sich in der Regel natürlich nicht versichern; die deutschen Frauen nutzen diese Möglichkeit auch nur in geringem Maße. Und die Krankenkassen hätten gleichfalls spitze Finger, beschwert sich Streetworkerin Zohren. In Duisburg zum Beispiel sind laut Stadt nur 200 Prostituierte gemeldet (was nicht heißt, dass sie auch versichert sind) – doch allein im Vulkan-Karree sind laut Solwodi rund 550 Zimmer genehmigt.

Legalisierung führt immer zu einer starken Ausweitung des Sex-Marktes

In einer Studie von 2012 haben Forscher aus Berlin, Heidelberg und London Daten aus 150 Ländern verglichen. Das Ergebnis: Legalisierung führt immer zu einer starken Ausweitung des Sex-Marktes. Der Menschenhandel wächst genauso schnell mit. Die Polizei registrierte 2011 deutschlandweit 640 Opfer; die Dunkelziffer ist natürlich extrem hoch. Die maßgebliche UN-Studie zum Thema (mit Zahlen von 2004) geht von rund 32.800 Opfern in Deutschland bei einer Gesamtmenge von 150.000 Prostituierten aus. Jede vierte bis fünfte Prostituierte wäre demnach betroffen.

Der Anteil mag zwischen Strich, Laufhaus und Edelclub variieren, aber wem schon das Herz fehlt es zu sehen, der möge die kalten Zahlen zur Kenntnis nehmen: Es wäre naiv anzunehmen, dass in einem beliebigen Haus an der Duisburger Vulkanstraße im Schnitt nicht mindestens eine Frau hinter ihrem Maskenlächeln die „Arbeit“ als permanente Abfolge von Vergewaltigungen erlebt.

*Name geändert