Essen. . Der Fall Mehmet spaltete die Nation – und tut es wieder, seit Muhlis Ari (wie er mit echtem Namen heißt) mit einer Biografie an die Öffentlichkeit drängt. Darf ein Täter sich Opfer nennen? In Essen stellte sich Ari via Skype der Diskussion mit Bürgern.
Wie soll man „Mehmet“ nur gerecht werden? Diesem jugendlichen Serienstraftäter aus türkischer Familie, dessen Abschiebung 1998 zum Politikum wurde – und drei Jahre später für Unrecht erklärt wurde. Es lohnt, sich noch einmal Gedanken darüber zu machen; nicht unbedingt, weil „Mehmet“ aktuell mit einer Biografie für sich wirbt, sondern weil sein Fall einiges erzählt über unseren Umgang mit extrem schwierigen Jugendlichen, von denen es heute nicht weniger gibt als 1998. Vielleicht wäre es eine gute Idee, ihm erst einmal zuzuhören – in Essen war jüngst Gelegenheit dazu. Mehmet stellte sich bei einer Lesung den Fragen von Bürgern: via Skype aus der Türkei, denn er ist ja auf der Flucht.
Ist das tatsächlich Mehmet, dessen unverschämtes Grinsen einst über alle Titelblätter hinweg empörte? Da redet, plaudert und erklärt ein deutlich breiterer Mann von der Leinwand herab, in klarer Sprache mit leicht bayrischem Akzent; offenkundig ist er nicht auf den Kopf gefallen.
Kein Witz, der Mann könnte Politiker werden
Muhlis Ari, der Mann hinter dem Medienphänomen
Das ist also der Mann hinter dem Medienphänomen: Muhlis Ari, den die Staatsanwälte Mehmet tauften zu seinem Schutz. Die rund 40 Gäste in der City-Messehalle des Essener Unperfekthauses sind ihm zwar wohl gesonnen, aber er hat auch gelernt mit Publikum umzugehen: Als sich ein Frager als türkischer Sozialpädagoge vorstellt, antwortet Ari: „Ich möchte mich erstmal bedanken. Solche Leute wie dich brauchen wir in Deutschland.“ Und, kein Witz, man kauft es ihm ab. Der Mann könnte Politiker werden.
Wenn er nicht für die meisten Deutschen absolut unwählbar wäre. Ein Archetyp, eine Karikatur: der ewige unverschämte Türkenjunge. Seine jüngste Charme-Offensive mit Hilfe des Marler Anwalts Burkhard Bennecken und des Düsseldorfer Biografen Christoph Straßer darf als gescheitert gelten. Wer Ari in der ein oder anderen Talkshow erlebt hat, mag den Eindruck eines Egozentrikers ohne Reue gewonnen haben. Verheerend die Besprechungen des Buches „Sie nannten mich Mehmet“. Die Bitte um Entschuldigung an die Opfer, sie fehlt schmerzlich. Stattdessen: Die Geschichte des Mehmet, Mehmet, Mehmet. Er selbst ist das Opfer. Der Politik, weil sie ihn instrumentalisierte. Der Medien, weil sie seine Geschichte verfälschten.
Ein Täter - aber auch Opfer?
Hat ein Täter das Recht, auch Opfer zu sein? Ist das nicht wieder einmal der Gipfel der Unverschämtheit? Das kann hier nicht entschieden werden. Aber wenn man ihm Gelegenheit gibt, länger zu reden, als in Talkshows üblich, wird zumindest deutlich: Es kann keine klare Antwort geben.
Im Vergleich zu aktuellen Fällen wie dem Dortmunder Klaukind Elisabeta, das hunderte Senioren beraubte (und traumatisierte), war „Mehmet“ fast ein Musterjunge. Rund sechzig Taten wurden ihm zur Last gelegt, kurz bevor er 14 wurde. Vierzig davon waren Fahrraddiebstähle. Der Rest: Diebstähle, Raub und Prügeleien mit gebrochenen Nasen. Der schwerwiegendste Fall kam an seinem 14. Geburtstag hinzu. Er und seine Clique schlugen einen 19-Jährigen zusammen. Mehmet prügelte ihn mit einer Zaunlatte ins Krankenhaus.
Abschiebung war illegal, befand ein Gericht
Dafür wurde der Münchener abgeschoben, ein deutschsprachiger Junge allein in der Türkei. Diese Abschiebung war illegal, befand später ein Gericht. In den USA hätte ein Justizopfer wie Ari vermutlich Anspruch auf eine Millionenentschädigung. Hier wird seine Rückkehr oft umgedeutet zur „zweiten Chance“.
Die Jahre in der Türkei hätten ihn traumatisiert sagt Ari heute: „Ich habe Albträume, Panikattacken. Ich kann Menschen nicht vertrauen.“ Ist es unanständig, wenn er darüber spricht? Denkt er denn überhaupt an seine Opfer?, will einer wissen. Natürlich tue es ihm leid, was er damals angerichtet hat. Am liebsten würde er mit seinen „Opfern“ reden, sagt Ari, das heißt: mit dem 19-Jährigen. Aber er habe dessen Identität nicht herausbekommen. Er wolle einen Verein gegen Jugendgewalt gründen.
Nur in seiner Biografie kommt das nicht so rüber. Der Autor Christoph Straßer sagt: „Ich wollte einfach seine Geschichte erzählen, nicht mehr, nicht weniger. Mehmet hat vor dem Buch oft gesagt, dass es ihm leid tut. Er hat es danach gesagt. Es glaubt ihm ohnehin keiner.“ Man kann es unklug finden, dass Ari und Straßer den Aspekt der Reue so beiseite schieben oder auch geschmacklos. Aber in Essen wird klar: Wenn auf der einen Seite verharmlost wird, wird auf der anderen dramatisiert. Denn nach seinem vierzehnten Lebensjahr hat Ari keine Opfer mehr „produziert“.
In einem Jahr verjährt seine Strafe, dann bräuchte er nur ein Visum
Heute wohnt er wieder bei seinen Eltern
Nach seiner Rückkehr ist er noch einmal verurteilt worden zu 18 Monaten auf Bewährung, weil er seine Eltern geschlagen habe. Er schwänzte darauf die Sozialstunden, sollte seine Strafe absitzen – und floh in die Türkei. Nun würde er verhaftet werden, wenn er in ein EU-Land einreist.
Diese Geschichte, so behauptet Ari nun, habe sich ganz anders zugetragen. Er habe seine Eltern nie geschlagen, die Details seiner Version kann man nicht nachprüfen. Fakt ist: Er wohnt wieder bei seinen Eltern, die als Rentner den Sommer in der Türkei verbringen, im Industriestädtchen Cerkezköy: „Wir verstehen uns gut“, sagt Mehmet heute. Er betrieb lange eine Paintball-Anlage, nun handelt er mit Gebrauchtwagen.
Was also will Ari? Er könnte sich ja stellen. Oder abwarten; in etwa einem Jahr verjährt seine Strafe, dann könnte er zurückkehren – vorausgesetzt Deutschland erteilt ihm ein Visum. Vielleicht arbeitet er darauf hin, hier seine Chancen zu verbessern. In Essen aber verfestigt sich der Eindruck, dass er nun tatsächlich als Überzeugungstäter handelt. Dass der Mann in der gleichen Falle sitzt wie die Öffentlichkeit und nicht mehr anders kann, als zwanghaft an seiner Version der Geschichte zu feilen: Dass ein eher durchschnittlicher Sünder von Politik und Medien zum Sündenbock der Nation gemacht wurde – im Alter von 14 Jahren.
Der Täter als Opfer? Man muss dem nicht folgen. Man darf das unverschämt finden. Aber gerecht ist es in seiner Geschichte nie zugegangen, von keiner Seite aus betrachtet.