Boston. . Das Attentat in Boston treibt Angehörigen und Teilnehmern nach den schrecklichen Ereignissen Tränen der Wut und der Trauer in die Augen. Kinder, Brüder, Ehrengäste: Der Tag nach dem Attentat offenbart das Schicksal der Opfer und ihrer Familien. Und die Not machte manche gar zu Helden.

Es waren kleine, tragbare Sprengsätze, die auf der Zielgeraden beim Boston-Marathon ein Blutbad anrichteten. Das Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen treibt nicht nur den Menschen rund um Boston Tränen der Wut und Trauer in die Augen.

Achtjähriger unter den Toten

Martin Richard wollte mit seinem Vater, der diesmal wegen einer Verletzung nicht mitmachen konnte, die anderen Läufer gebührend begrüßen nach den Strapazen. Gemeinsam mit Mutter Denise und zwei Geschwistern wartete der Achtjährige aus dem Vorort Dorchester in der Nähe der Ziellinie an der Boylston Street im Herzen der Innenstadt von Boston und jubelte den Sportlern zu. Dann gingen am Montagnachmittag kurz hintereinander die beiden Bomben hoch. Der Drittklässler - tot. Seine Mutter - schwer verletzt, notoperiert. Eine Schwester - nur noch ein Bein. Der Bruder - wie durch ein Wunder unverletzt. Der Vater - kam mit leichten Blessuren davon. Ein Schicksal unter vielen, das den Menschen in der Metropole an der amerikanischen Ostküste am Tag danach Tränen der Wut in die Augen treibt.

„Solche Verletzungen kennen wir nur aus Bagdad oder Israel“

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Von Hayke Lanwert und Annika Fischer

Die fünffache Mutter Liz Norden erhielt nach dem Anschlag einen Telefonanruf ihres zweitältesten Sohnes. Der 31-Jährige habe sich aus einem Krankenhaus gemeldet und gesagt: „Mama, ich bin sehr schwer verletzt.“ Sein älterer Bruder (33) habe neben ihm gestanden, und er wisse nicht, was mit ihm passiert sei. Wenig später habe die Mutter dann erfahren, dass sich ihre beiden Söhne in verschiedenen Krankenhäusern befinden. Beide hätten ihr Bein vom Knie abwärts verloren.

„Solche Verletzungen kennen wir doch nur aus Bagdad oder Israel“, sagte Dr. Alasdair Conn, Chef des Notärzte-Teams im Massachusetts General Hospital, als die Rettungsdienste immer mehr Opfer heranfuhren.

Schwere Kopfverletzungen. Fehlende Gliedmaßen. Über zehn Amputationen an Armen und Beinen. Tiefe Schnittwunden. Zerrissene Trommelfelle. Posttraumatische Störungen. Die nach Polizeiangaben mit Kugellagern und anderen metallenen Splitterteilen bestückten Sprengsätze haben schwerste Verwundungen ausgelöst.

78-Jähriger schaffte trotz Detonation den Zieleinlauf 

Einen mächtigen Schutzengel hatte Bill Illfrig. Den 78-Jährigen, einer der Ältesten im knapp 23 500 Köpfe zählenden Teilnehmerfeld, hatte die Druckwelle nach der Detonation kurz vor dem Ziel von den Füßen geholt. Benommen lag der durchtrainierte Senior, dessen Foto um die Welt ging, für kurze Zeit am Boden. Dann halfen ihm Retter auf die Beine und führten ihn die letzten Meter über die Ziellinie.

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„Ich habe am ganzen Körper gezittert, die Schmerzen habe ich erst gar nicht gespürt“, sagte er einem Radio-Reporter. Die Detonation und der Sturz des betagten Läufers waren auf einem Video zu sehen, das der Sender immer wieder zeigte.

Die Langsamen bemerkten nichts

Langsameren Läufern wie Maureen Tighe erschloss sich der Schrecken erst viel später. „Ich hatte ja keine Ahnung, was vor sich ging“, sagte die Lokalmatadorin. Nach den Explosionen fing die Polizei knapp 5000 Teilnehmer weit vor dem bis gestern weiträumig abgesperrten Katastrophengebiet ab; der 117. Boston-Marathon wird für sie immer unvollendet bleiben.

Im medizinischen Versorgungszelt für die Läufer, wo bis 15 Uhr lediglich ein paar Blasen verarztet werden mussten, brauchte auch Rüdiger Korbel einige Zeit, um den Schock zu verdauen. Der 53-jährige Professor für Tiermedizin aus München war bei seiner Marathon-Premiere den offenbar in Mülleimern entlang der Zielgeraden deponierten Bomben um Haaresbreite entronnen.

Eine Minute später – und es hätte ihn wahrscheinlich erwischt. Bis dahin war „Adrenalin und Enthusiasmus“, zitierte der „Boston Globe“ den Deutschen. Ab da war „nur Verzweiflung und Fassungslosigkeit“.

Ein Helfer wird zum Helden

Bewunderung schlug einem der vielen „Helden“ der Tragödie entgegen. Carlos Arredondo, gebürtig in Costa Rica, machte sich bei der Erstversorgung etlicher Schwerstverletzter verdient, die Arme und Beine verloren hatten. Arredondos Sohn Alexander starb als Soldat im Irak-Krieg. Sein anderer Sohn Brian nahm sich aus Verzweiflung darüber das Leben. Mehrere Fernsehsender filmten den bärtigen Mann bei seiner aufopferungsvollen Erste-Hilfe-Arbeit. Bostons scheidenden Bürgermeister Menino: „Beispielhaft!“

Unter den unverletzt gebliebenen Zuschauern, die an der Ziellinie auf einer Ehrentribüne saßen, waren Eltern der 20 beim Schul-Massaker von Newtown erschossenen Grundschulkinder. Ihnen war symbolisch die letzte Meile des rund 42 Kilometer lange Rennens gewidmet.