Dortmund. .
Die Therapeutin stellt dem Jungen die Spielzeugkiste mit den Pferdchen hin. Aber Marcel will nicht spielen. Er fremdelt. Doch die Mutter ist trotzdem zufrieden. Endlich hat ihr Sohn einen Therapieplatz bekommen.
Vier Monate hat Nicole Bußmann-Gönder (38) gewartet. Jetzt ist Marcel (7) Patient bei Reinhild Temming, Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche in Dortmund. Temming bemerkt bitter: „Selbst acht Monate Wartezeit sind keine Seltenheit.“
Für Mütter wie Nicole Bußmann-Gönder bedeutet das: die Sorge, dass das Kind bleibende psychische Schäden entwickelt. Und die Angst, dass der Alltag weiterhin so aufreibend bleibt. Wie bei Marcel. Konzentrationsstörungen, Aggressivität. Wutausbrüche, die sogar der Mutter Angst machten. Jahrelang ging das so. „Es hat mich unheimlich Kraft gekostet.“
Sie war lange alleinerziehend, hatte „eine Scheidung hinter sich, die wie Krieg war“. Sie wartete ständig auf die Unterhaltszahlungen. Sie musste aus der Wohnung heraus. „Mit drei Kindern, wer nimmt einen denn da?“
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Ihre beiden anderen Söhne sind heute 15 und 18 Jahre alt. Damals, als das Leben der Mutter aus der Bahn geriet, brauchten sie noch jede Menge Zuwendung. „Ich war nur froh, wenn die Kinder Ruhe gaben.“ Gaben sie aber nicht.
Junge litt an Schlafstörungen
Marcel schlief immer weniger, und wenn er wach war, „war er sofort auf hundert“. Es habe so viel nicht mit ihm gestimmt, „er war so verstört, er konnte zum Beispiel manchmal kaum seine eigene Spucke herunterschlucken“.
Was den Kleinen vollends aus dem Gleichgewicht warf, war ihr eigener Zusammenbruch, als sie einfach umgekippt war. Vor den Augen des Kindes. „Das hat ihm unendlich Angst gemacht.“
Reinhild Temming: „Ängste können sich, wenn sie zu spät behandelt werden, verschlimmern, so dass die Therapie deutlich schwieriger wird, als wenn sofort Hilfe da ist.“ Ängste, weil die Stabilität der Familie durch ständigen Streit der Eltern in Gefahr ist, Ängste durch Überlastung, nach Trennungen oder Schulängste – „werden sie nicht frühzeitig behandelt, können sie sich zu einer massiven Störung auswachsen“, so Temming. Manchmal reiche der normale Alltag, die Kinder zu verstören. „Vor allem, wenn Eltern wenig Zeit für ihr Kind haben.“ Und manchmal, wenn das Kind ständig ausraste, müsse sofort Hilfe her.
Für Monika Konitzer, Diplom-Psychologin und Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW, sind die Wartezeiten höchst problematisch. „Gerade bei Kindern und Jugendlichen darf man nicht lange warten. Das kann gravierende Folgen haben.“ Wie Außenseitertum, Schulversagen oder eine spätere Depression. Das Kind, die ganze Familie leide dann jahrelang.
Mit Spieltherapie nach Ursache und Lösungen suchen
17 Wochen beträgt die Wartezeit im Durchschnitt bis zum Erstgespräch, so Konitzer. „Dann dauert es aber oft noch 32 Wochen, bis die Behandlung beginnt.“ Häufig kämen mittlerweile Kinder zur Therapie, die Probleme mit der Konzentration hätten. Früher nannte man sie Zappelphilipp, heute sind es die Kinder mit einer ADHS-Diagnose, Aufmerksamkeitsdefizits- oder Hyperaktivitäts-Diagnose.
Auch ihr mittlerer Sohn litt unter ADHS. „Aber dann hieß es, er habe es doch nicht.“ Zwar ging die Mutter auch mit Marcel zu einem Kinderpsychiater, einem Mediziner ohne große Wartezeiten. Doch Marcel „kriegte nur ein Medikament verschrieben“. Ob es hilft? „Die Lehrerin sagt ja, aber abends kann er immer noch nicht abschalten. Und es ist ja ein sehr schweres Medikament.“ Die Mutter suchte dringend Alternativen. Doch das dauerte. Vier Monate.
Im Gegensatz zu Kinderpsychiatern sind Psychotherapeuten keine Mediziner, sondern haben oft – wie Reinhild Temming – Psychologie studiert. Sie ist Diplom-Psychologin und setzt auf Spieltherapie statt Chemie, bezieht die Familie mit in die Behandlung ein. „Tabletten bekämpfen ja nicht die Ursachen.“ Im Spiel lebten Kinder ihre Gefühle aus. „So kann man erkennen, was sie bedrückt. Und mit ihnen spielerisch Lösungen suchen.“
Nicole Bußmann-Gönder sagt: „Es geht uns schon viel besser, weil wir endlich einen Platz haben.“
Depressionen nehmen zu
Psychisch Kranke müssen im Ruhrgebiet etwa doppelt so lange auf einen Termin warten wie in anderen Großstädten, so die Psychotherapeuten Kammer NRW. Während sich in Stuttgart, Nürnberg oder Leipzig 32,5 Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner niederlassen dürfen, sind es in Duisburg, Essen und Dortmund nur je 11,4 Therapeuten. Der Grund liege in der „Bedarfsplanung“, die noch auf einer Sonderregelung für das Ruhrgebiet Ende der 90er-Jahre basiere, heißt es.
Laut Statistischem Bundesamt haben Depressionen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Während 2007 deutschlandweit etwa 8000 Jugendliche in Kliniken behandelt wurden, waren es 2011 fast 14.000 – eine Steigerung von etwa 70 Prozent. In NRW hat sich die Zahl von 2748 (2007) auf 4612 (2011) erhöht. Knapp 10.000 der Kinder erhalten zwischen dem sechsten und 18. Lebensjahr ADHS-Medikamente, so André Maßmann, Sprecher der AOK Rheinland/Hamburg.