Oberhausen. .

Im Kindergarten ging Max über Tische und Bänke. „Das gibt sich“, dachte Sabine (Namen geändert) damals. Die Erzieherin riet ihr, zur Erziehungsberatung zu gehen. Sabine fühlte sich verletzt und ignorierte den Rat. Heute weiß sie: Max hat ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Störung), je früher er Hilfe bekommt, desto besser.

„In der Grundschule ist es erst so richtig aufgefallen“, erinnert sich Sabine. Da habe ihr Sohn unterm Tisch gesessen und seine Lehrerin angespuckt. Er konnte sich nicht konzentrieren und störte den Unterricht. Die Pädagogin hakte nach. „Plötzlich wurde uns bewusst, dass schon viel in den Brunnen gefallen war, wir wandten uns an einen Kinderarzt.“

Die Eltern hatten Glück: Da die Wartezeit bei Kinderpsychologen, aber auch in Diagnosezentren, oft mindestens ein Jahr beträgt, machte ihr Arzt Druck. Nur so folgten zeitnah körperliche, neurologische und psychologische Untersuchungen. Das Ergebnis war eindeutig.

Für die Eltern begann ein langer Weg. Zwei Jahre Familientherapie, unzählige Gespräche mit der Schule. Letztlich auch die Entscheidung, ob Max Medikamente bekommen sollte oder nicht. „Wir entschieden uns dafür“, sagt Sabine. Sie kenne die Vorbehalte, räumt die 31-Jährige ein. Und sie hätten lange das Für und Wider abgewogen. Aber der Leidensdruck des Kindes sei zu groß gewesen.

Von anderen Kindern gemobbt

„Er konnte seine Wut nicht kontrollieren, schubste andere Kinder, schmiss Bücher durch den Klassenraum.“ Dann die ständigen Zurechtweisungen durch die Lehrerin. „Schon in der ersten Klasse wurde unser Sohn gehänselt und von anderen Kindern gemobbt“, erzählt Sabine.

Ohne Medikamente zog Max sich erst die Jeans und dann die Unterhose an, war völlig unsortiert. Mit dem Medikament läuft es besser, aber noch lange nicht rund.

Sabine wünscht sich oft, dass Lehrer anders mit den Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes umgingen. „Schön wäre es, wenn sie den anderen Kindern etwa klar machen würden, dass Max zwar gerne anders will, aber gar nicht kann.“ Bei einem Kind im Rollstuhl erkenne man auf den ersten Blick, dass es nicht laufen könne. „Aber Max sieht völlig normal aus, verhält sich sogar auch oft so.“ Wenn ihn etwas interessiere sei er zum Beispiel auch mal eine etwas längere Zeit engagiert bei der Sache.

Sabine wünscht sich einen Boxsack für den Klassenraum. „Wenn es einen Vorfall mit anderen Kindern gegeben hat und Max sauer wird, will seine Lehrerin immer nur mit ihm darüber sprechen – aber er muss sich auch abreagieren können.“ Außerdem könne so ein Sack doch auch für die anderen Kinder eine gute Sache sein.

Bei Regelverstößen werde in seiner Grundschule auch schon einmal die Teilnahme am Sportunterricht gestrichen. „Das ist für unseren Sohn genau verkehrt, er benötigt doch noch mehr als andere Kinder Bewegung“, bedauert Sabine. Sie räumt ein: „Wenn ich das anspreche, habe ich Angst, seine Lehrerin könnte denken, ich will ihre Arbeit kritisieren.“

Bei rund 200 Kindern jährlich fällt die Diagnose ADS 

Inzwischen arbeitet Max in einer Tagesgruppe nach der Schule an seinem Sozialverhalten. Wenn er jetzt wütend auf seine kleine Schwester ist, rennt er erst einmal in sein Zimmer und knallt die Tür zu. „Das war sein eigener Vorschlag“, erzählt die Mutter stolz.

Bald wird der Zehnjährige auf die Gesamtschule wechseln. Denn trotz ADS ist Max ein aufgewecktes Kerlchen.

Rund 400 Kinder pro Jahr kommen mit dem Verdacht auf eine Aufmerksamkeits-Defizit-Störung ins Sozialpädiatrische Zentrum am EKO ( 881-1390). Bei knapp der Hälfte und damit zirka 200 Kindern fällt im Schnitt tatsächlich diese Diagnose.

„Die Kinder sind nicht unwillig und schon gar nicht schlecht erzogen, sie sind krank“, betont auch SPZ-Chefarzt Dr. Joachim Opp. Der Vorderlappen im Gehirn von Menschen mit ADS arbeite nicht richtig. Der Botenstoff Dopamin, der Informationen zwischen den Nervenzellen vermittele, gelange nicht von einer Zelle in die nächste. „Denn die Nervenzelle fängt die Dopaminmoleküle, gleich nachdem sie sie freigesetzt hat, wieder ein“, erläutert Opp. So sei die Kommunikation zwischen den Gehirnzellen gehemmt, Informationen könnten nicht optimal verarbeitet werden.

Mit fatalen Folgen: Denn damit gelinge den Kindern keine Unterscheidung mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen. Schlimmstenfalls seien sie kaum in der Lage, einen Gedanken zu Ende zu führen, zuzuhören und Aufgaben geplant zu erledigen. Eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Rechenschwäche könnten hinzukommen.

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Impulsives Verhalten

„Von einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung sprechen wir, wenn ein Kind länger als sechs Monate sowohl in der Schule als auch zu Hause ein sehr unaufmerksames und impulsives Verhalten zeigt“, so Joachim Opp vom SPZ. Kämen motorische Unruhe und ein starker Bewegungsdrang dazu, handele es sich um ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung).

„Beides beginnt spätestens im Kindergarten-Alter, von ADHS sind vor allem Jungen betroffen, von ADS eher Mädchen.“ Dabei gilt: Gerade die verträumten Kinder, die Sachen liegen lassen, vergessen, was sie als Hausaufgabe auf haben, werden oft nicht erkannt. Opp weiß: „Sie gelten einfach als langsamer oder fauler.“ Mit mangelnder Intelligenz habe ADS aber nichts zu tun. „Wir hatten einen Jungen mit ADHS hier, der einen IQ von 120 hat.“

Der Einsatz von Medikamenten sei stets abzuwägen und nur begleitend zu einer umfassenden Therapie gedacht. Der darin enthaltene Wirkstoff Methylphenidat bewirke, dass die Reizweiterleitung in Gang komme. Umstritten sei der Wirkstoff aber, weil befürchtet wird, dass er die kindliche Entwicklung hemmt und die Persönlichkeit verändert.

„Auf der anderen Seite ermöglichte uns dieses Medikament, dass wir ein Kind mit gutem IQ von der Förderschule holen konnten.“